Josef Priebsch an Hugo Schuchardt (07-09018)

von Josef Priebsch

an Hugo Schuchardt

London

24. 09. 1893

language Deutsch

Schlagwörter: Handschriften British Museum (London) Glossen Sprachkontaktphänomene Sprachgeschichte (intern) Sprachgeschichte (extern) Bitte um wissenschaftliche Meinung Zeitschrift für romanische Philologie Publikationsvorhabenlanguage Spanischlanguage Baskischlanguage Portugiesisch

Zitiervorschlag: Josef Priebsch an Hugo Schuchardt (07-09018). London, 24. 09. 1893. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3716, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3716.


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21. Woburn Place
W.C.
Russelsquare
London, den 24. Sept. 1893

Hochgeehrter Herr Professor!

Wenn ich mir die Freiheit nehme, diese Zeilen an Sie zu richten, so bitte ich Sie, diese Belästigung meinerseits mit der Wichtigkeit der Angelegenheit, in welcher ich mich an Sie, hochverehrter Herr Professor, wende, gütigst entschuldigen zu wollen. Es handelt sich nämlich um Romanisches aus der pyrenäischen Halbinsel. Der Cod. Add. 30,853 des British Museum1, aus dem IX. s. enthält nebst anderen liturgischen Stücken ein lateinisches Poenitentiale2, welches mit aus demselben Jahrhunderte stammenden (darauf weisen die toletanischen Schriftzüge hin) Glossen der |2| Vulgärsprache versehen sind; die Handschrift ist mit vielen anderen aus dem castilischen Kloster Silos bei Burgos (Santo Domingo de S.) bei Versteigerung der Bibliothek an das British M. gekommen. Herr Prof. Gröber3, dem ich mir erlaubte, ein paar Proben mitzutheilen, mißt dem Funde hohe Bedeutung zu. Berganza in seinen Antiguedades de España4 hat das lat. Poenit. abgedruckt und ein paar ihm unerklärliche Worte als Randbemerkungen beigefügt, desgl. eine Anzahl derselben in das am Schlusse des Werkes befindliche Vokabular aufgenommen. Ich gestatte mir nun, hinsichtlich einiger mir sehr dunkel scheinender Glossen Ihren geschätzten Rat einzuholen5:

iumento ˂ibizone (altport. ibiçom, cyviçom) „macho, jumento, besta da carga“ (Elucidario, Moraes). Das Wort begegnet zum erstenmale in einer Urkunde des Jahres 1112 (Azurara da Beira) wo es heißt: |3|„Et de ibicione qui non torna jugada, non querant inde ulllum servicium sine precio“. (Elucidario, daselbst noch zwei weitere Beispiele aus Rechtsurkunden der Jahre 1136 u. 1162). Santa Rosa de Viterbo erklärt: „Vem de Iberou Imbrus, o macho“ou de Iberus, o cavallo de Hespanha“ (?!)

ibicionem liegt den span.port. Formen zugrunde; doch woher dieses? An eine Ableitung aus ebĕa (Steinbock) ist doch begrifflich unmöglich zu denken! Keiner der Ausdrücke für „Esel, Zugtier“ bietet in den rom. Sprachen etwas analoges, wenigstens meines, vielleicht unzulänglichen Wissens nach. Nach Berganza, der das Wort aus der in Rede stehenden Handschrift genommen hat, haben es Vincente (sic) Salvá, Barcia, nicht die Academia, Cuveiro Piñol, der übrigens für sein Dicc. gall. aus allen spanischen Glossaren geschöpft hat, nicht Valladares Núñez, Dicc. gall., in ihre Wörterbücher aufgenommen. Eine arabische Quelle scheint nicht vorzuliegen; denn weder Dony noch Eguílaz y Yanguas kennen das Wort.6

Es hat nur eine kurze Lebenszeit gehabt, |4| da in Portugal, vom 12. Jahrh. an, jede Spur von ihm verloren gegangen ist.

Ist es vielleicht baskisch?

Eine ebenso undurchdringliche Wolke schreibt über der folgenden Glosse.

2) lacerantes ˂ tradecando7

Berg. im Vocabular: tradecar: despedazar, welchem Salvá, Bárcia u. Piñol getreulich nachfolgen; Barcia schafft aus eigenem die lautgerechtere Form tradegar.

lazrar, lazdrar muß also schon frühzeitig die Bedtg. sufrir, padecer angenommen haben, da der Glossator lacerare mit diesem dunkelen Worte wiedergibt. An ein *taratricare (gall. portug. trado) ˂ tratricare (Dissim.)  ist schwer zu denken, da der Begriff „zerfleischen, zerreißen“ dieser Deutung entgegensteht. Man könnte noch ansetzen: *torticare (aus tortos, torquere) ˂ troticare ˂ traticare (durch Einfluß des r ist o ˂ a) drehen, zerdrehen (durch fortgesetztes drehen zerbrochen) zerstückeln (!)

|5| 3) qui denati sunt ˂ elos qui naiserenso

Der alte Berganza ruft erstaunt aus: q. d. s.: e. q. naiserenso!

Suchte sich der Glossator etwa das ihm unverständliche denati in folgender  höchster mechanischer Weise aufzulösen: nascere + inde + sunt ˂ nais[c]er + en(d) + so[n]?

4) ebenso seltsam ist:

per se met ipsum ˂ persibieleiso, so deutlich zu lesen.

das wäre: per + sibi + ille + ipsum (!!)

Berg: eleiso: el mismo.

5) cultus ˂ collitura de dio

in collectiones (sc. erbarum) ˂ enas collituras

Berg. nur: colitura : culto

Also gleiche Resultate verschiedener Grundformen:

a.)    ist wohl eine Bildung wie colitor, bei Hildebrand: pro salute sacerdotum et kandidatorum et colitorum huius loci. vielleicht direct aus: colitare

|6| b.) *collīctura (?)˂ collitura wie dito (alt) aus dictum

dio ist interessant und entspricht dem judenspan.; vielleicht die echte, alte, volksthümliche Form, die dem gel. Dios weichen mußte.

6) lite˂ entraina

Kann doch nicht heutiges entraña sein. schwerlich inter + răpīnam, vgl. prov. raina Streit, Rauferei

7) malas ˂ magatias

Berg. magacia, magia˘

Eluc. magacía, arte magica, feitiçaria, magio˘ so auch Moraes.

wunderlich ist die Erklärung des Wortes bei Barcia: „octavo mes del año etiope“

die lat. Stelle des Poenit. lautet

Clerici … qui in saltatione femineum abitum gestiunt et monstruose fingunt et malas et arcum et palam et hi similia exercent … (so das ms.).

Sollte mala ein Schreibfehler sein für |7|pnacula Masche, Panzerhemd? Schwerlich. Dufresne kennt ein „mala, equestris sarcina, pera viatoria“  Besser paßt für die Bedeutung der Glosse ebendaselbst: malia „vox Italica, magia, maleficium incantatio“.

Auch an die Kasseler Glosse 244 malas upile habe ich gedacht.

8) non prius ˂ anzes

merkwürdig, da die pyr. Sprachen doch kein * anties kennen sondern stets ante + s so, wie ante u. antre.

9) Häufig erscheint die Form: siega, -n ˂ sea, -n; g ist hiatustilgend; sie ist der ältesten juristischen Literatur unbekannt; ich finde bei Muñoz (Docum.) nur  sedea, seia, sia, sien.

Um Ihre kostbare Zeit nicht allzusehr in Anspruch zu nehmen, will ich hier die Fragen beenden, obwohl mir [Text: wir] noch manche unklare Wortformen aufstoßen, über die wohl, damit tröste ich mich, bald ein besserer Kenner der Vulgärsprache einiges Licht verbreiten wird. Doch kann ich es nicht übers Herz bringen, Ihnen noch eine Reihe hübscher alter Worte kurz zur Mittheilung zu bringen:

|8|demumque ˂ depuisca(scheint über die Pyrenäen herüber gekommen zu sein)

concubina ˂ guencoba (ob g oder q zu lesen ist vermag ich nicht zu entscheiden) geht auf ein *cŏncŭba zurück.

(sponsata) puella ˂ malata ist ein Rest der german. Eroberungszeit; so altport. malada „escrava, serva, manceba, menina etc.“ (Eluc.) mittellat. mallum, -us; Ableitg: altport. maladia, malladia etc.; auch bei Michaelis Wtb. maladia (ant.) Ritterburg …, maladio adj. cavalleirom. Burgritter, malado Vasall.

femora ˂ campas ist prächtig; Alex. camba, cama P. C. und die Kasseler Gl. 171. campa, hamma, gamba heute veraltet.

preuigna ˂ id est antenata filia sua muliere bestätigt in Isid. Gl. antenatus ˂ privignus. (antenado, andado etc.)

eo dadurch ˂ intantum

por eu, ende

Herr Prof. Gröber sieht in dem ersteren die Quelle von alt.entent, doch ist mir das Wort im altspan. nicht gelungen aufzufinden.

pecodis (ms.) gen. ˂ uistia zeigt die Wahlverwandtschaft von i u. s.

|9|prencat (prend(e)at) ist die ältere Stufe von prenga

poncat  ˂ ponat muß eine Analogieform sein; entspr. späterem ponga

duplicaot, tolliot, cadiot sind willkommene Formen vulgärer Rede; ebenso abierat (habiera) u. sapet

Herr Prof. Gröber empfielt mir die Glossen in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen, ein Wunsch, dem ich, soweit es in meinen schwachen Kräften steht, mit Freuden nachkommen werde.

Nun aber fürchte ich, Ihre Geduld, hochverehrter Herr Professor, endlich erschöpft zu haben und schließe. Ich gebe mich der angenehmen Hoffnung, daß Sie die Ferien bei bester Gesundheit verbracht haben, und verbleibe, im vorhinein dankend für Ihre gütige Mittheilung, betreffend die dunklen Wortformen, mit den herzlichsten Grüßen

Ihr allzeit ergebener
Josef PriebschHeHe


1 Vgl. das Digitalisat http://arachne.uni-koeln.de/item/buch/5040. – Priebschs Artikel in ZrP 19, 1895, 1-40, beginnt mit einer Beschreibung dieser Hs. Das Poenitentiale befindet sich auf ff. 309 ro-324vo.

2 Vgl. Anm. 1 zu Brief 08-09019.

3 Gustav Gröber (1844-1911), bedeutender Romanist aus Straßburg, Hrsg. der ZrP.

4 Francisco de Berganza, Antiguedades de España propugnadas en las noticias de sus Reyes, y Condes de Castilla la Vieja: En La Historia apologetica de Rodrigo Diaz de Bivar, dicho El Cid Campeador; y en la Coronica del Real Monasterio de San Pedro de Cardeña. Compuesta por el R. P. M. Fr. Francisco De Berganza Predicador General de la Religion de San Benito, 2 Bde., Madrid 1719-21. Das Poenitentiale wird hier Bd. 2, 660-672 abgedruckt.

5 Leider wissen wir nicht, was und in welchem Umfang Schuchardt Priebsch geantwortet hat. In dem in der folgenden Anm. zit. Aufsatz finden sich keine entsprechenden Hinweise. Auf die Existenz der Hs. wurde Priebsch übrigens durch seinen Vetter Robert hingewiesen.

6 Vgl. dazu ausführlich Priebsch, „ Altspanische Glossen “, ZrP 19, 26-27.

7 Da die einzelnen Glossen im zuvor genannten Aufsatz mithilfe des alphabetischen Verzeichnisses auf S. 39-40 mühelos aufzufinden sind, wird im folgenden auf einen genauen Nachweis verzichtet.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09018)