Josef Priebsch an Hugo Schuchardt (02-09013)

von Josef Priebsch

an Hugo Schuchardt

London

31. 12. 1892

language Deutsch

Schlagwörter: Biographisches Reisen King's College (Cambridge) Networking Bodleian Library (Oxford) British Museum (London) Modern Language Notes Fortescue, George Knottesford Dodgson, Edward Spencer Paris England Oxford Bonaparte, Louis-Lucien (1909)

Zitiervorschlag: Josef Priebsch an Hugo Schuchardt (02-09013). London, 31. 12. 1892. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3710, abgerufen am 20. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3710.


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64 Gloucesterplace   London 31. December
Portmansqu. W. 1892

Hochgeehrter Herr Professor!

Gestatten Sie, daß ich Ihnen mit diesen Zeilen ein Lebenszeichen von mir gebe und nehmen Sie vor allem meine besten Neujahrswünsche entgegen; ich wünsche von Herzen, daß Ihnen im kommenden Jahre ein in jeder Hinsicht Sie zufriedenstellender Gesundheitszustand beschieden sein möge.

Darf ich Sie mit der Mittheilung einiger Details über meine Persönlichkeit belästigen? Im Laufe des Monates Juli verließ ich Paris, um in England längeren Aufenthalt zu nehmen, wenige Wochen nur weilte ich damals in London, um in erster Linie die |2| Einrichtung des Britischen Museums, die Art der Katalogisierung kennenzulernen, dann wandte ich mich, nach einem kurzen Aufenthalte in Cambridge, wo ich in King’s College durch bekannte Fellows eingeführt wurde, nach dem lieblichen Oxford; daselbst fand ich reichliche Beschäftigung und Gelegenheit zu Studien in der ausgezeichnet dotirten und bequem eingerichteten Bodleiana, nicht jedoch in dem Maße war ich studieneifrig, daß ich nicht Zeit gefunden hätte, gesundheitfürdernden und erhaltenden Rudersport zu üben, ein Vergnügen, dem zu huldigen der zwischen saftig grünen Matten ruhig sich dahin schlängelnde Strom der Themse, dort Jves1 genannt, und ihr kleiner aber romantischer Nebenfluß Charwell2 die beste Gelegenheit bieten. Durch Empfehlungen in die dortigen Kreise eingeführt, lernte ich die angenehmen, geselligen Eigenschaften der gelehrten scholars und das liebens- |3| würdige Wesen der stark von Universitätsgeist erfüllten Damen kennen; Prof. Max Müller3, der sehr frisch und munter aussieht, empfing mich und meinen germanistischen Vetter4 aufs zuvorkommendste; auf dessen gütige Verwendung hin, gewannen wir Zutritt zu dem in dem herrlichen Garten des Wadham College abgehaltenen Gartenfeste des Orientalistencongresses. Mit angenehmen Erinnerungen an die dort so glücklich verlebten Monate, kehrte ich im Anfange des October nach der Hauptstadt zurück, in der Absicht um im British Museum mich festzusetzen. Es gibt wohl keine Anstalt auf dem Continente, die mit dieser in irgend einer Hinsicht rivalisiren könnte; auch der Bibl. Nat. stehen so reichliche Mittel, wie sie das Mus. besitzt, nicht zur Verfügung; in den seltensten Fällen versagt der musterhaft geführte Catalog; Wünsche, in dem aufliegenden |4| Desiderienbuche aufgezeichnet, werden sofort berücksichtigt; die Beamten sind überaus höflich und zuvorkommend und zu jeglicher Unterstützung bereit, erfreuliche Eigenschaften, die ich den Pariser Beamten absprechen muß.

Nachforschungen, die ich im Beginne meines Londoner Aufenthaltes über das Schicksal der Lucien Bonaparteschen Bibliothek anstellte5, ergaben kein sicheres Resultat, heute erfahre ich, da ich bei der berühmten Bücher Auctionsfirma Southeby6 am Strand Erkundigungen einzog, daß die reiche Bibliothek des Prinzen im Laufe dieses Jahres zur öffentlichen Versteigerung kommen dürfte, das Datum ist leider nicht fixirt, der Termin des booksale wird 6 Wochen früher in allen Journalen bekanntgegeben7 das Br. Mus. wird, wie mir Mr Fortescue8 mittheilt, jedesfalls die Mehrzahl der Bücher u. Handschriften ankaufen. Ich werde mich freuen, Ihnen, geehrter Herr Professor, einen Catalog derselben, unmittelbar |5| nach Erscheinen zusenden zu können. Aus einer in dem Märzhefte der „Modern Language Notes“ erschienen Notiz9 ersehe ich, daß Sie sich zur Zeit mit den auf englischem Colonialgebiete gesprochenen Mischsprachen beschäftigen.10 Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich mich Ihnen irgendwie sei es durch Nachforschung nach in das Fach einschlägigem Material, sei es durch Abschriften von Manuscripten, die sich im Brit. Mus. finden, gefällig erweisen könnte. Mr Dodgson11 scheint, wie ich aus einer Pariser Quelle erfahren habe, im letzten Sommer die baskischen Lande wieder unsicher gemacht zu haben; ich bemühte mich vergebens in der letzten Zeit meines Aufenthaltes ihm seine wortvergleichenden |6| Phantastereien aus dem Kopf zu schlagen; ich hoffe, daß er Sie, seitdem ich ihm einen nicht miszuverstehenden hint gegeben habe, mit seinen Spielereien verschont hat.

Ich gedenke, Ende dieses Monats London für Cambridge auf einige Zeit zu verlassen.

In der Hoffnung, daß dieses Schreiben Sie, hochgeehrten Herrn Professor, bei guter Gesundheit antreffe, verbleibe ich Ihr

ergebener Schüler
Dr Josef Priebsch


1 Verschrieben für Isis, was der eigentliche Name der Themse in Oxford ist? Das Schriftbild spricht für Jves, Joos oder Joes, ähnelt aber auch „Isis“?

2 Der Name lautet richtig Cherwell.

3 Friedrich Max Müller (1823-1900), aus Dessau stammender Sprach- und Religionswissenschaftler, unterrichtete ab 1850 in Oxford, wo er 1868 eine Professur für Vergleichende Religionswissenschaft schuf; er war wissenschaftlich äußerst produktiv und arbeitete auch für die Bodleian Library.

4 Zu Robert Pietsch s. Bedeutung.

5 Schuchardts Interesse erklärt sich durch den wissenschaftlichen Austausch mit dem Prinzen, vgl. „Briefe des Prinzen L.-L. Bonaparte an H. Schuchardt“, Revue internationale des études baques 3, 1909, 133-139.

6 Das traditionsreiche Auktionshaus Sotheby’s (so die richtige Schreibung) in London wurde 1744 gegründet und existiert noch heute. Der „Strand“ ist die Verbindungsstraße zwischen der City of London und der City of Westminster.

7 Die Bücher wurden im Jahr 1901 von der 1887 in Chicago gegründeten Newberry Library erstanden. Auf deren Homepage heißt es: „In 1901, the Newberry acquired the collection of amateur comparative linguist Louis Lucien Bonaparte (1815–1891), nephew of the Emperor Napoleon. Numbering some 18,000 items, the Bonaparte collection represents the state of linguistic studies at the end of the nineteenth century. It includes many grammars and dictionaries for all the European languages and some non-European ones, rare items exemplifying the early printing of individual languages, and other specimens of everyday printing of the nineteenth century selected to represent the spoken languages of that day. It is particularly strong for such linguistic isolates as Albanian, Sardinian, Basque, Frisian, and Lithuanian, for Romance dialectology, and for the Celtic languages. The rarities and other linguistic specimens intersect with other collection strengths of the Newberry, for example, in the areas of children’s books, almanacs, courtesy books, Bibles, hymnals, catechisms, and songsters“.

8 George Knottesford Fortescue (1847-1912), seit 1899 Keeper of the Printed Books des British Museum (British Library).

9 MLN 7, H. 5, 1892 , 158: „Professor Hugo Schuchardt (University of Graz, Austria) is engaged on a special work dealing with Negro English. In order to treat this subject as fully as possible, the author would esteem it a favor, if writers of news-paper articles (or other casual contributions to local journals) bearing on the material, would forward to him directly copies of said articles, or indicate the same through the columns of MOD. LANG. NOTES“.

10 Offenbar hat Schuchardt dieses Angebot gern angenommen, wenn man die folgenden Briefe vergleicht.

11 Edward Spencer Dodgson (1857-1922), Britischer Baskologe, Korrespondent Schuchardts (HSA, Lfd. Nr. 02373-02603); vgl. insbesondere Brief 032-02393; vgl. auch Anm. 15 Brief 01-09021 .

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09013)