Oskar Nobiling an Hugo Schuchardt (02-07924)
von Oskar Nobiling
an Hugo Schuchardt
12. 10. 1909
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Publikationsversand Sonderabdruck Zeitschrift für romanische Philologie Grundriss der romanischen Philologie Sprachvergleich Romanisierung Literaturbeschaffung Universität Graz Portugiesisch außerhalb Europas
Portugiesisch (Brasilien)
Albanisch
Portugiesisch
Baskisch Azeredo, Álvaro de Rio de Janeiro Schuchardt, Hugo (1888) Schuchardt, Hugo (1867) Schuchardt, Hugo (1909)
Zitiervorschlag: Oskar Nobiling an Hugo Schuchardt (02-07924). São Paulo, 12. 10. 1909. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3604, abgerufen am 23. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3604.
S. Paulo, 12.X.09.
Rua Taguá 2.
Hochgeehrter herr,
Nachdem ich Ihnen bisher meinen dank für Ihren freundlichen brief vom 26.III. nur durch zusendung von ein paar abzügen aus dem Archiv1, die Sie möglicherweise sonst nicht zu gesicht bekommen hätten, bezeigt habe, kommt mein ausdrücklichr dank und meine antwort allerdings jetzt etwas verspätet; doch bitte ich Sie nicht zu zweifeln, dass Sie mir durch Ihr schreiben, für das Sie unter vielen beschäftigungen zeit gefunden haben, und durch das gütige anerbieten Ihrer unterstützung aufrichtige freude gemacht haben.
Für übersendung des 2. Ihrer aufsätze in Gröbers Zs. XII. XIII. (Np von Senegambien)2 würde ich Ihnen dankbar sein, auch wenn er allein die reise machte, da ich vergebens versucht habe auch auf antiquarischem wege die ganze serie zu erhalten. – Was meinen aufsatz über Alban. u. Port. betrifft3, so ist er daraus entstanden, dass mir beim lesen des kapitels über Alb. in Gröbers Grundriss 1 die vielen übereinstimmungen, gerade mit dem Port. auffielen4; ich bin dann der sache mit, wie ich zugebe, sehr unzureichenden hülfsmitteln nachgegangen und zu dem schluss gekommen, dass einige dieser übereinstimmungen sich wohl aus der zeit der ersten entstehung beider sprachen herschreiben könnten. Meine folgerung allgemeinerer art, dass man durch sprachvergleichung den sehr komplizierten entstehungsprozess der Romanischen sprachen bedeutend aufhellen und überhaupt in den zustand einer sprache in ihrer allerältesten (sozusagen embryonen=)zeit tief eindringen könnte, möchte ich auch heute noch aufrecht erhalten.
In bezug auf caneca5 wird Ihnen vielleicht von interesse sein, |2| was mir hr. Alvaro de Azeredo, der verfasser eines unprätenziösen und eben deshalb nützlichen artikels über „A linguagem popular de Baião“6 in der Rev. Lusitana XI, nr. 3 u. 4, schreibt:
„Quando ao sufixo eco, é um diminutivo pejorativo de emprego frequente. Se caneco deriva realmente de cano …, a significaçao diminutiva e pejorativa obliteron-se, para designar hoje uma vasilha de barro, de lonça ou de madeira que, nem de longe, nos traz á mente a idea de cano. Junta-se hoje este sufixo a todo e qualquer substantivo que se pretende ridicularizar ou indicar que não presta para nada, que é uma insignifcancia, desprezivel, etc.“
Die Zs. f. Rom. Phil. erhalte ich, wie Sie vermuten, regelmäßig und lese darin mit begreiflichem interesse grade Ihre artikel, so in dem letzten, 4. Heft des jahrgangs.7 – Bask.ibai (p. 465) als stammwort für veiga – vega scheint mir sehr annehmbar; und zu Ihrer erklärung der doppelten bedeutung einer „flussgabelung“ wie auch der auffassung des flusses nicht als sich bewegendes wesen, sondern als straße, die je nach bedarf von der quelle zur mündung oder von der mündung zur quelle „zieht“, gestatten Sie mir eine bestätigende ergänzung. (Man hat ja, wenn man sich in exotischen ländern mit sprachgeschichte beschäftigt, neben den notwendigen nachteilen, die aus der lückenhaftigkeit der litterarischen hülfsmittel entspringen, bisweilen auch vorteile durch die nähere berührung mit primitiveren lebensverhältnissen, wie sie der beginn der sprachentwicklung voraussetzt.) Dass die flüsse die ältesten landstraßen sind, ist ja nicht zweifelhaft, und erst als solche erwecken sie eingehenderes interesse und fordern zur namengebung auf: für den sesshaften fischer genügen gattungsnamen wie „fluss“, „wasser“ oder höchstens „tiefes wasser“, „großer fluss“. Bei der flussschiffahrt abwärts aber haben die vereinigungen zweier flüsse meist keine bedeutung; sie wer- |3| den, solange die ufer mit wald bedeckt sind, oft gar nicht bemerkt, dagegen sind sie von der höchsten wichtigkeit für den flussauf fahrenden schiffer, sie sind für ihn scheidewege und verlangen nach einem namen. – Was endlich die frage angeht, ob man in Rio de Janeiro vom „hohen“ oder vom „tiefen“ süden spricht: man sagt wohl beides kaum, denn die landkarten-anschauung ist hierzulande überhaupt nicht sehr verbreitet; aber wenn schon, so würde man gewiss eher sagen lá embaixo no extremo sul. Beweisen aber würde auch das nichts, da die bloße nachahmung Europäischer sprechweise ebenso gut im spiele sein könnte: bezeichnet doch auch hier meio dia nie eine andre himmelsrichtung als den süden.
Ich schließe mit bestem gruß und den herzlichsten wünschen für Ihre gesundheit.
Ihr ergebener
O. Nobiling
1 Zu denken ist z.B. an die Rez. des Cancioneiro de Ajuda, ASNSpr 121, 1908, 197-208; 122, 1909, 193-206. Zumindest der erste Teil dieser Publikation wurde von Nobiling mit eigenhändiger Widmung an Schuchardt geschickt. Das Exemplar befindet sich in der Institutsbibliothek Romanistik der Karl-Franzens-Universität Graz (Signatur 35/82).
2 „Beiträge zur Kenntnis des kreolischen Romanisch: II. Zum Negerportugiesischen Senegambiens“, ZrP 12, 1898, 301-312.
3 „ Albanês e Português “, Boletim da Sociedade de geographia de Lisboa 21, Nr. 8-9, 1903; auch separat, 19 S.
4 Gustav Meyer (neubearbeitet von Wilhelm Meyer-Lübke), „ Die lateinischen Elemente im Albanischen “, in: Gustav Gröber, Grundriss der Romanischen Philologie, Bd. I, Strassburg 1904-1906, 1038-1057.
5 Vgl. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins, Leipzig 1867, II, 279 Anm., ZrP 6, 625 Anm.
6 „ Apontamentos sobre a linguagem popular de Baião “, Revista Lusitana XI, 1908, 182-209
7 „Span. vega; nava“, ZrP 33, 1909, 462-468.