Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (28-02816)

von Karl von Ettmayer

an Hugo Schuchardt

Bad Radein

20. 10. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversen Questione ladina Politik- und Zeitgeschichte La Divina Commedia Salvioni, Carlo Schuchardt, Hugo (1900)

Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (28-02816). Bad Radein, 20. 10. 1917. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3452, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3452.

Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.


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Sehr geehrter Herr Hofrat!

Indem ich vom himmlischen Kampfplatz der Wissenschaft auf unsere nüchterne Erde herabsteige, kann ich nur feststellen, dass Ihre aufklärende Karte1 den Eindruck[,] den Ihre Arbeit über Sprachverwandtschaft bei mir erweckt hatte, nur verstärkt hat. Aus der Art, wie Sie Salvioni und dann wieder mir gegenüber die Worte setzen, spricht soviel neurasthenisches Unbehagen mit allen seinen bekannten Begleiterscheinungen[,] dass ich es für meine Pflicht halte[,] Sie zu fragen, ob Sie Ihre Arbeit, die[,] wie Sie selbst zugeben[,] z. T. auf unvollständigen Literaturkenntnissen beruht, im Interesse der deutschen Wissenschaft2 wie in eigenem |2| nicht besser zurückzögen. Gewiss hoffe ich es als Ihr ehemaliger Schüler, dass, wenn Friede u. Ordnung wiederkehrt, noch viele Belehrung und Aufklärung grosser wissenschaftlicher Probleme von Ihrem genialen Geiste zu erwarten ist. Im jetzigen Augenblicke halte ich aber Ihre Ausführungen über Sprachgrenzen3 für unheilvoll und ich könnte, falls Sie Ihre Arbeit aufrechten [sic] halten wollten, nur die Worte Dantes4 wiederholen: Issa vegg’io lo nodo che mi distolse… Verzeihen Sie mir diese ernsten Worte in ernster Stunde[,] ich kann nicht anders5.

Ettmayer
Razenberg, den 20 Oktober 1917


1 Diese Karte Schuchardts ist, da der Nachlass Ettmayers im Zweiten Weltkrieg verschollen ist, leider endgültig unauffindbar. Freilich wäre ihr Inhalt sehr interessant gewesen.

2 Die Evokation einer „deutschen Wissenschaft“ mit eigenen Interessen ist natürlich kriegsbedingt und hätte bei Schuchardt durchaus eine gewisse Rührung erzeugen können. Man kann sich auch fragen, was das Adjektiv deutsch in genau diesem Kontext alles bedeuten könnte (bzw. wohl auch sollte): „in deutscher Sprache verfasst, nördlich der Alpen angesiedelt, bezogen auf das Wissenschaftsverständnis der Mittelmächte, nicht- bzw. anti-italienisch“ etc.???

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In der fraglichen Schrift spricht Schuchardt von „Grenzen“ zwischen Sprachen nur ganz allgemein, und zwar in Zusammenhang mit der bei ihm ja oft vorkommenden Vorstellung einer „geographischen Abstufung“ von Sprachähnlichkeiten im Raum. In seiner im Jahr 1900 publizierten und auf das Jahr 1870 zurückgehenden Schrift über die „Klassifikation der romanischen Mundarten“ wird diese Problematik um vieles deutlicher und ausführlicher angesprochen. Dabei verwendet Schuchardt allerdings stereotyp den Begriff der „geographischen Abänderung“ und betont auch, dass er angesichts des fließenden Charakters der Sprachähnlichkeiten im Raum  eine Klassifizierbarkeit der romanischen Mundarten im Grunde für nicht durchführbar hält.

Wenn hier Ettmayer dennoch Schuchardt einen staatspolitisch bedenklichen Umgang mit Sprachgrenzen bzw. vielleicht gar mit den Grenzen des vom italienischen Irredentismus ins Visier genommenen Rätoromanischen vorwirft, so muss er dafür eine weit über den vorliegenden Text hinausgehende Veranlassung gehabt haben.

4 Siehe dazu in der Divina Commedia, Purgatorio XXIV, Vers 55: „Oh, frate issa vegg’io – disse egli – il nodo / Che il Notaro e Guittone e me ritenne / Di qua dal dolce stil nuovo ch’i’odo.“

5 Hier fühlt man sich an Luthers Worte am Reichstag zu Worms (17. April 1521) erinnert: „Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 02816)