Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (27-02814)

von Karl von Ettmayer

an Hugo Schuchardt

Wien

09. 10. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Nationalismus Questione ladina Wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversen Sondersprachen Erster Weltkrieg Archivio glottologico italianolanguage Italienischlanguage Bündnerromanisch Ascoli, Graziadio Isaia Schuchardt, Hugo (1917) Salvioni, Carlo (2008)

Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (27-02814). Wien, 09. 10. 1917. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3450, abgerufen am 10. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3450.

Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.


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Wien, den 9. Oktober 1917

Sehr geehrter Herr Hofrat!

Zu meiner grossen Enttäuschung, ja Erbitterung habe ich p. 520 Ihrer „Sprachverwandtschaft“1 gelesen, dass Sie S.[alvioni]2 gegenüber Ascoli3 Recht geben, obwohl S.[alvioni] im Verlaufe seiner Arbeiten immer wieder zeigte, dass er von der ladinischen Sprachgeschichte nichts versteht u. seine Tätigkeit gegenüber A.[scoli] einen gewaltigen Rückschritt bedeutet. Wenn Sie mir die „Ladinia e Italia“[,] die ich bisher nicht einsehen konnte[,] zusenden würden, wäre ich Ihnen dankbar. Zum mindesten hätten Sie meines Protestes KJb III Tirolische ON Kunde…Ethnologie p 94 gedenken sollen.

Mit besten Empfehlungen
Ettmayer


1

Es geht um die folgende Schrift Schuchardts, wovon dieser Ettmayer eine Woche zuvor einen Sonderdruck zugeschickt hatte: Sprachverwandtschaft, in: Sitzungsberichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaftern 37, 1917, 518-529.

Zum Wortlaut der fraglichen Stelle und einer ausführlichen Darstellung der Hintergründe dieses Konflikts siehe eingangs unter „Bedeutung – Der Bruch mit Schuchardt (1917)“.

2

Carlo Salvioni (1858-1920): Schweizer Sprachwissenschaftler aus dem Tessin (Bellinzona); Dialektologe, Mediävist und Namensforscher; 1885-1889 Professor in Turin; 1890-1902 als Nachfolger von G. I. Ascoli Professor in Mailand, Begründer des „ Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana“ (VSI); ähnlich wie der aus dem Trentino (damals Österreich) stammende Romanist Carlo Battisti (1882-1977) von starker italo-nationalistischer Gesinnung durchdrungen. Er hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg seine Schweizer Staatsangehörigkeit zurückgelegt und jene Italiens angenommen. Seine beiden Söhne Ferruccio und Enrico nahmen freiwillig auf der Seite Italiens am Ersten Weltkrieg teil und fielen knapp nacheinander im Mai 1916 im Kampf gegen Österreich-Ungarn, Ferruccio bei Görz, Enrico bei Cortina d’Ampezzo.

Die Mailänder Akademie hatte Salvioni bereits im Frühjahr 1916 eingeladen, in ihrer ersten Sitzung des Jahres 1917 einen Vortrag zum Thema „Ladinia e Italia“ zu halten. Er hat dieses Thema auch tatsächlich mit seinem Sohn Ferruccio noch vor dessen Tod besprochen. Die Druckversion dieses Vortrags erschien einerseits in den Akten der Mailänder Akademie und andererseits als Sonderdruck (Pavia: Fratelli Fusi). Dieser enthielt nach dem Titelblatt eine Seite mit den zwei folgenden persönlichen Widmungen: Alla memoria / de‘ miei figliuoli / Ferruccio ed Enrico / caduti / combattendo per Italia e Ladinia / in terra ladina. Alla loro madre / che li volle educati a quella morte.

An den in der Familie Salvioni herrschenden Italo-Nationalismus erinnert eine noch heute in Bellinzona ( Tessin, Schweiz) öffentlich sichtbare Tafel, die vom Kanton Tessin 1919, also ein Jahr nach dem Ende des Weltkriegs, angebracht worden war: Sulla casa paterna / di Ferruccio e Enrico Salvioni / cittadini ticinesi / soldati martiri d’Italia / ardenti nella fede / che a pugnare e a morire per l’Italia / già chiamava i nostri maggiori / il Cantone Ticino / incide i due fulgidi nomi / e la memoria nei cuori / Bellinzona MCMXIX.

Biographisches: Broggini, Romano (2008): Biografia di Carlo Salvioni, in: Salvioni Carlo: Scritti linguistici, a cura di Loporcaro, Michele [et alii], Locarno: Edizioni dello Stato del Canton Ticino, vol. V, 17-113; ferner: Timpanaro, Sebastiano (1980): Il carteggio Rajna-Salvioni e gli epigoni di Graziadio Ascoli, in: Belfagor 35, 45-67.

Sehr interessante Einblicke in das italo-irredentistische Denken der Familie Salvioni eröffnet der folgende Band: Re, Francesco (ed.) (1917): In memoria dei fratelli Ferruccio ed Enrico Salvioni. (Schizzo biografico. Scritti. Lettere dalla guerra. Documenti diversi), Milano: Francesco Re.

Schuchardt hat den fraglichen Salvioni-Text sicher nur als Sonderdruck der Mailänder Akademie gesehen und kannte daher nicht die Doppelwidmung des in Pavia erschienenen Separatabzugs. Zudem ist zu beachten, dass Schuchardt mit Salvioni zwischen 1899 und 1914 in (sehr freundlichem) Briefkontakt stand. Im Schuchardt-Archiv sind dazu 19 Poststücke (meist Postkarten) erhalten, die zu ungefähr gleichen Teilen auf Deutsch und auf Italienisch abgefasst sind. Salvioni, der u. a. in Leipzig studiert hatte, bedient sich dabei eines sehr flüssigen deutschen Stils.

Angesichts der nicht erst seit Kriegsbeginn sehr austro-patriotischen (und durchaus auch deutsch-nationalen) Grundhaltung Schuchardts erstaunt doch einigermaßen, dass er bei der Lektüre des Salvioni-Textes von 1917 die darin vorgenommene „Um-Klassifizierung“ der drei Bestandteile der von G. I. Ascoli bereits im Jahr 1873 als eigene Sprachgruppe definierten Ladinia umstands- bzw. kritiklos akzeptiert hat. Ettmayer hatte – sicher als Folge seiner im Trentino (Welschtirol) verbrachten Jugend – ohne jeden Zweifel diesbezüglich die größere Sensibilität bzw. hatte wohl auch verschiedene italo-nationalistische Texte Salvionis vor 1914 kritischer als H. Schuchardt gelesen.

Diese Texte Salvionis bezogen sich meist exklusiv auf Romanischbünden, den dort zu beobachtenden Niedergang des örtlichen Romanischen, das (negativ gesehene) Vordringen des Deutschen und die Rolle des Italienischen als eines sprachlichen und kulturellen Rettungsankers für das vom Deutschen bedrohte Bündnerromanische.

Salvioni bedient sich dabei der Terminologie Ascolis in recht ambiger Weise. Während dieser die Termini ladino und Ladinia im Falle fehlender geographischer Abtönung (z. B. durch zusätzliche Adjektive) immer auf das Gesamtgebiet des Rätoromanischen (zwischen Oberalp-Pass und Triest) bezog, verwendete sie Salvioni – ebenso ohne spezifizierende Abtönung – mit variierenden Geo-Referenten: im Aufsatz-Titel „Ladinia e Italia“ bezog er sich auf Romanischbünden, bei der dem Sonderdruck vorangestellten Widmung aber zuerst auf Romanischbünden (combattendo per Italia e Ladinia) und dann, da ja seine Söhne in Tirol bzw. in Friaul gefallen sind (caduti […] in terra ladina), auf Tirol und Friaul gemeinsam.

Erneut weise ich darauf hin, dass der in Frage stehende Text Salvionis auch in der Schweiz zwei scharfe Entgegnungen erfahren hat: durch den Romanisten Jakob Jud ( „Ist das Bündnerromanische eine italienische Mundart?“, in: Bündnerisches Monatsblatt 1917, 129-143 ) und den Indogermanisten sowie Rätoromanisten Robert von Planta („ Rätoromanisch und Italienisch“, in: Neue Zürcher Zeitung 24. / 25. Mai 1917 ). In beiden Fällen wird nicht nur die linguistische Einseitigkeit sondern auch die politische Schlagseite der Argumentation Salvionis aufgezeigt und scharf getadelt. Überdies wird von  beiden Autoren auch der Trentiner Romanist Carlo Battisti für seine einseitigen Stellungnahmen in rätoromanischen Belangen kritisch zitiert.

Ettmayer stand also damals mit seiner Ablehnung bzw. Empörung keineswegs allein da. Umsomehr erstaunt die Blauäugigkeit bzw. Naivität Schuchardts, womit dieser Salvionis Einlassungen begegnet ist.

Ohne Kenntnis dieser auch sprachlich sehr komplexen Rahmenbedingungen kann der rund um Salvioni zwischen Ettmayer und Schuchardt ausgebrochene Konflikt nicht adäquat verstanden werden: siehe dazu eingangs die ausführliche Darstellung der Hintergründe dieses Konflikts im Abschnitt „Bedeutung – Der Bruch mit Schuchardt (1917)“.

3 Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907): berühmter italienischer Indogermanist, Semitist und Romanist (Dialektologe), gebürtig aus Görz, Professor in Mailand von 1861 bis 1902. Gründer des heute noch bestehenden „Archivio glottologico italiano“ (1, 1873ff.); Urheber der geotypologischen Klassifikation von Dialekten mittels der „particolar combinazione“ der Verteilungsareale ausgewählter Sprachmerkmale (vorgeführt anhand des ladino im Jahr 1873 und des franco-provenzale im Jahr 1874). Seine geotypologische Lehre wurde sowohl von französischen (G. Paris, P. Meyer) als auch von italienischen (C. Battisti, C. Salvioni etc.) Linguisten aus letztendlich politischen Motiven bekämpft und mittels „typophober“ Techniken unterlaufen. Zu Vita und Werk siehe die vorzügliche Charakterisierung von Sebastiano Timpanaro: Graziadio Ascoli, in: Belfagor 27 (1972) 149-176 .

4 Es handelt sich um die folgende Schrift Ettmayers: Tirolische Ortsnamenkunde und Ethnologie 1908-1913, in: Kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der romanischen Philologie 13 (1911-1914) III, 3-12 .

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