Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (19-02807)
an Hugo Schuchardt
07. 01. 1915
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Politik- und Zeitgeschichte Nationalismus Popular Science / Populäre Wissenschaftsvermittlung Zeitungen Sprachen in Brasilien Erster Weltkrieg Schuchardt, Hugo (1915) Nyrop, Kristoffer (1917)
Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (19-02807). Innsbruck, 07. 01. 1915. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3443, abgerufen am 29. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3443.
Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.
Innsbruck, am 7.1.1915
Sehr geehrter Herr Hofrat !
Ihr Flugblatt „An die Portugiesen"1 hat mir viel Freude bereitet und, - wenn kein Einspruch von Ihrer Seite erfolgte, würde ich gerne einem grösseren Innsbrucker Publikum, etwa durch die hiesigen Nachrichten[,] den Genuss der Lektüre Ihrer kernigen Verse2 verschaffen. Ihre stille Hoffnung, dass die Berichte über den sehr unintellektuellen Beschluss der Lissaboner Akademie, sowie A. France’s3 Altweiberhysterie gegenüber dem sattsam bekannten Popanz vom Vandalisme teutonique lediglich auf Fälschun-|2|gen4 beruhen[,] mögen [sic] wohl – leider – den Thatsachen kaum entsprechen. Denn es scheinen ja mehrere Fälle vorhanden gewesen sein, dass die „geistigen Führer“ der gegnerischen kriegsführenden Nationen sich zu Stimmungen hinreissen liessen, welche der erstbeste aus der Front heimkehrende pionpion mit ironischem Lächeln berichtigen könnte. Bei uns würde sich ein solcher A. France einfach lächerlich machen, und es wäre der Kultur Europas nur förderlich, wenn die von Ihnen mit Recht angegriffenen Herrn in Portugal u. Frankreich männlicher schreiben und handeln lernen wollten.
Ihr ergebenster
Karl v Ettmayer
1 Dieses Flugblatt hat den folgenden Untertitel: Deutscher Neujahrsgruß 1915.
2 Die Hälfte des nur eine Seite umfassenden Flugblatts besteht aus einem (gereimten) Gedicht Schuchardts, worin dieser unter Anspielung auf die Geschichte Portugals dessen derzeitiges politisches Bündnis mit England beklagt.
3 Auf diesem Flugblatt wird neben dem französischen Literaten Anatole France (1844-1924; Nobelpreisträger 1921) auch der portugiesische Literat und damalige Präsident Portugals Teófilo Braga (1843-1924) zitiert. Es geht dabei um ein Schreiben, das A. France an T. Braga gerichtet hat, worin er diesen zur Evokation und Anprangerung des „vandalisme theutonique“ beglückwünscht.
Die unmittelbar nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs unter den Intellektuellen Europas aufgekommenen nationalistischen Erregungen stellen eine fast uferlose Fakten- und Forschungslandschaft dar. Hier sei unter extremer Verkürzung der Sachverhalte und der dazu vorhandene Literatur auf die folgenden Eckpunkte hingewiesen: a) exzessive Vorkommnisse (betreffend Menschenopfer und Zerstörungen, u. a. der Universitätsbibliothek) in Löwen (Leuven, Louvain) während des deutschen Vormarsches durch Belgien (25.-28. August 1914); b) Dazu erfolgten zahlreiche internationale Proteste, auf die am 4. Oktober 1914 eine Gruppe von 93 deutschen Professoren mit einem „Aufruf an die Kulturwelt“ reagierte.
Zu den Ereignissen in Löwen: Peter Schöller (1958): Der Fall Löwen und das Weissbuch. Eine kritische Untersuchung der deutschen Dokumentation über die Vorgänge in Löwen vom 25. bis 28. August 1914, Köln, Graz: Böhlau; Wolfgang Schivelbusch (1988): Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus der Zeit der Weltkriege, München: Hanser; Kurt Flasch (2000): Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Ein Versuch, Berlin: Fest.
Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang zwei im Jahr 1917 publizierte Texte des bekannten dänischen Romanisten Krystoffer (auch: Krystof, Christophe) Nyrop (1858-1931), der von 1897 bis 1928 in Kopenhagen Professor für französische Sprache und Literatur war: 1) Die verhafteten Professoren und die Universität in Gent. Eine Frage von Macht und Recht. Mit Antwort an die deutsche Legation in Stockholm, Lausanne: Payot , 2) Guerre et civilisation, Paris: Berger-Levrault, Nancy: Libraires-Éditeurs. In letzterer Schrift gibt es zahlreiche Anspielungen auf kriegsspezifische Publikationen und Aufrufe Schuchardts. Biographisch ist anzumerken, daß Nyrop nicht nur vorzüglich das Deutsche sprach und schrieb, sondern sich auch in Deutschland und Österreich auf Grund zahlreicher Reisen bestens auskannte.