Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (10-02798)
an Hugo Schuchardt
20. 10. 1909
Deutsch
Schlagwörter: 50. Versammlung deutscher Schulmänner und Philologen (Philologentag) in Graz (1909) Reisen Biographisches Sprachgeschichtsschreibung Methodologie Sprachgeschichte (extern) Grammatikographie Publikationsvorhaben Vorträge Reflexion über wissenschaftliche Disziplinen / akademische Fächer Goebl, Hans (Hrsg.) (1995)
Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (10-02798). Freiburg im Üechtland, 20. 10. 1909. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3434, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3434.
Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.
Freiburg i Schweiz 22/X/909
Sehr geehrter Herr Hofrat !
Eben in Freiburg eingetroffen, finde ich Ihre freundlichen Zeilen vor. Nach den strapaziösen Philologentagen werden die Brioni [-Inseln]1 ein so ideales Gegenmilieu bilden, dass ich mich gar nicht traue, wieder mit meinen philologischen Plänen herauszurücken. Andrerseits läge mir so viel daran, Ihr Urteil über die mich interessierenden Zukunftsfragen zu hören, |2| dass ich es ganz Ihrem [?] Ratschluss überlasse, ob und wann Sie, Herr Hofrat, auf dieselben einzugehen Lust haben. Für mich selbst sind es ja lauter Fragen, deren Beantwortung ich mir recht weit weg denke. Vor allem würde ich mir wünschen, dass (– ich weiss nicht, ob es dieser seinerzeitige Brief von mir ist, auf den Sie anspielen) dass [sic] zur inneren Sprachgeschichte auch eine rationelle Untersuchung der äußeren Sprachschicksale trete: historische Verbreitung der Sprachen, Sprachgrenzverschiebungen, ihre Ursachen, eventuelle Prinzipien derselben, Entstehung u. allmählige Verbreitung der „Reichs-“ u. Schriftsprachen[,] Geschichte der „Töchtersprachen“, etc. |3| Über alles das ist ja schon viel gearbeitet worden, aber ich denke, man könnte einmal in einem zusammenfassenden Handbuch daraus ein konkretes Fundament für einen selbständigen Zweig der Sprachwissenschaft errichten, der auch über2 Probleme der inneren Sprachgeschichte, – sowohl der Wortgeschichte als z. B. der Dialektbildung [–] Hilfsdienste leisten könnte.
Was dann die eigentliche[,] wie ich sie nenne[,] „innere“ Sprachgeschichte betrifft, so bewegen sich meine Träume in zwei Richtungen, einmal möchte ich der alten, rein descriptiven Grammatik3, wie sie einst |4| bestand, speziell in der Syntax wieder zu ihren wissenschaftlichen Rechten verhelfen (worüber ich einen kleinen Aufsatz seit einigen Monaten zum Drucke fertig liegen haben [sic]) und [dann möchte ich] die „hist. Grammatik“, (– ich denke immer in dieser Richtung[–]) […] den Ergebnissen der Wortgeschichte entsprechend anpassen – worauf mein Ortsnamenvortrag in Graz4 hinaus lief. Das wäre etwa mein Programm. Ich weiss nicht mehr, was ich früher an Sie [,] Herr Hofrat, geschrieben hatte und welchen Briefes Sie sich eben entsannen. Irgendwie wird es wohl in den Rahmen, den ich eben abgrenzte, hineinfallen. Indem ich wünsche, dass es an der Adria5 so schön sein möge, dass Sie, hochgeehrter Herr Hofrat, alle papiernen Gedanken von sich weisen, verbleibe ich
Ihr ergebenster
Ettmayer.
1 Es geht hier um eine Gruppe von 14 kleineren Inseln (ital. Brioni, kroat. Brijuni), die unweit von Pola / Pula vor der Südspitze Istriens liegen und seit den Zeiten der Alten Monarchie aus klimatischen und archäologischen Gründen als sehr attraktive Tourismusdestination gelten.
2 Besser: für.
3 Davon hat Ettmayer bereits im neunten Brief ( 09-02797 vom 2.11.1908) gesprochen. Es handelt sich um eine Publikation mit dem Titel: „Benötigen wir eine wissenschaftlich deskriptive Grammatik?“ (BIB 22 in Goebl 1995, 248).
4 Es dreht sich um die Publikation 16 bei Goebl 1995, 247: „Ziele und Methoden der Ortsnamenforschung“.
5 Es ist also Schuchardt, der zeitgleich auf den Brioni-Inseln weilt.