Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (05-02793)

von Karl von Ettmayer

an Hugo Schuchardt

Brindisi

02. 04. 1905

language Deutsch

Schlagwörter: Nachsendung Berufungen Universitätsangelegenheiten Universität Freiburg (Schweiz) Atlas linguistique de la France Lou Trésor dóu Félibrige Romanische Philologie Germanistiklanguage Frankoprovenzalischlanguage Ladinisch Cornu, Julius Zwierzina, Konrad Goebl, Hans (Hrsg.) (1995) Edmont, Edmond/Gilliéron, Jules (1918) Mistral, Frédéric (1879)

Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (05-02793). Brindisi, 02. 04. 1905. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3429, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3429.

Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.


|1|

Brindisi 2 April 1905

Hochgeehrter Herr Hofrat!

Ihre freundliche Karte, welche mir ein gutes Stück nach gereist ist, da meine Eltern meine Adresse noch nicht kannten, habe ich mit vielem Danke erhalten. Gleichzeitig noch andere Briefe u. a. von Herrn Prof. Cornu1, der mir mittheilt, dass er hinsichtlich der Lehrkanzel in Freiburg mich in seinem Referate besprechen wolle[,] unter Hinzufügung, dass auch Herr Hofrat bei |2| Nennung meines Namens beigepflichtet hätten. Ich bin also auch Herrn Hofrat zu Dank verpflichtet, da mir die Nennung natürlich sehr schmeichelhaft ist2. Thatsächlich habe ich bereits auf eine direkte Anfrage Prof. Zwierzina’s3 hin meinerseits im Prinzipe einer eventuellen Berufung zugestimmt, – wie ich Ihnen[,] sehr geehrter Herr Hofrat[,] wohl gestehen darf, nicht ohne langes Überlegen, da sich in mir[,] der ich durch Erziehung und Naturell völlig Österreicher bin[,] |3| manches gegen die mir fremden Verhältnisse unter Unbekannten sträubte4. Schließlich kam mir immer mehr zu Bewusstsein, dass gerade die Freiburger Berufung für den Romanisten die Übertragung einer bestimmten, umschriebenen wissenschaftlichen Aufgabe bedeute, das Studium des Francoprovenzalischen und Ladinischen5, - und damit waren alle Überlegungen beseitigt und fühle ich mich als Soldat in der Front mit dem Tornister am Rücken. Ich hoffe[,] dass auch Herr Hofrat meinen Standpunkt richtig finden und billigen, falls die Freiburger Commission |4| mich in ihren Vorschlag aufnähme.

Wegen dahuo noch6. Es ist kein Druckfehler und die Schreibung hu steht wohl für w also dáwo, wie intervoc. v z. B. bei Luchaire7 (jetzt auch Gil Atlas8) beschrieben wird. Ich fand die Form, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht[,] in einem Extrait eines gaskon. cartulaire’s oder in jenem Glossaire des patois … de la Gascogne, das (jünger als der Tresor9) urkundliche, mundartliche Formen der Gascogne gesammelt hat. Sobald ich meine Zettelsammlung zu [sic] Hand habe, werde ich Herrn Hofrat alle mir verfügbaren Daten zusenden.

Hochachtungsvollst

Ihr

ergebener

K Ettmayer


1 Jules Cornu (1849-1919), aus der Schweiz stammender Romanist, Nachfolger von Schuchardt auf dessen Grazer Romanistik-Lehrkanzel.

2 Zum Generalkontext: Ettmayer muss kurz zuvor den Ruf nach Freiburg im Üchtland (Schweiz) erhalten haben, wo er dann bis 1911 Ordinarius für Romanische Philologie war: cf. dazu Goebl 1995, 206-209.

3 Konrad Zwierzina (1864-1941) war ein österreichischer Germanist; zwischen 1899 bis 1906 hatte er in Freiburg im Üchtland ein Ordinariat für Germanistik inne. Er war zum Zeitpunkt dieses Briefes in Freiburg Dekan und als solcher direkter Ansprechpartner von Ettmayer.

4 Dieses patriotische Bekenntnis Ettmayers zu Österreich kommt in seinen Schriften und Briefen mehrfach vor.

5 Mehrfache Anspielung: einerseits auf das in Freiburg/Fribourg autochthone Frankoprovenzalische und andererseits auf die darauf (s. v. franco-provenzale) und auch auf das ladino (= Raetoromanisch im Sinne von Theodor Gartner) bezogene geotypologische Lehre des damals allseits hochgeachteten Mailänder Linguisten Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907).

6 Ettmayer zitierte diese Form auf der Seite I 78 seines Berichts zur „Vergleichenden romanischen Grammatik“ (BIB 2 in Goebl 1995, 246).

7 Es handelt sich um den französischen Mediävisten und Philologen Achille Luchaire (1846-1908), dem – unter anderem - wichtige historische und philologische Arbeiten zum Südwesten Frankreichs zu verdanken sind. Hier spielt Ettmayer wohl auf das folgende Opus an: Recueil de textes de l’ancien gascon d’après les documents antérieurs au XIVe siècle, suivi d’un glossaire, Paris: Maisonneuve, 1881.

8 Gemeint ist der zwischen 1902 und 1910 in 35 Faszikeln erscheinende „Atlas linguistique de la France“ (ALF) von Jules Gilliéron (1854-1926). Der von ihm bzw. von den darin enthaltenen Daten auf die romanistische Linguistik ausgeübte Einfluss kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

9 Damit ist das lexikographische Meisterwerk des südfranzösischen Dichters Frédéric Mistral gemeint: Lou Trésor dóu Félibrige ou Dictionnaire Provençal-Français embrassant les divers dialectes de la langue d’oc moderne, Aix-en-Provence: Remondet Aubin, 1878, 2 vol.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 02793)