Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (03-02792)
an Hugo Schuchardt
26. 10. 1902
Deutsch
Schlagwörter: Mähen und Dreschen Etymologie Wörterbücher Lou Trésor dóu Félibrige Wörter und Sachen [Zeitschrift] Italienische Dialekte Provenzalisch Norditalienische Dialekte Mistral, Frédéric Goebl, Hans (Hrsg.) (1995) Mistral, Frédéric (1879)
Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (03-02792). Wien, 26. 10. 1902. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3428, abgerufen am 16. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3428.
Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.
Wien, den 26. Okt 1902
XVIII. Gentzg. 7.
Sehr geehrter Herr Hofrat!
Da sich Herr Hofrat in Ihrem freundlichen Briefe, der mir eine außerordentliche Freude gemacht hat, für das Wort berg.[amaskisch] bramil, blamil interessieren, möchte ich Ihnen die Daten zur Verfügung stellen, welche ich selbst gesammelt habe. Entgegen der Definizion welche Tiraboschi1 von diesem Worte gibt[,] bezeichnete man mir in St. Omobono2 als bramil3 eine Art Sense, welche von der gewöhnlichen, die im Bergamaskischen allgemein als ranža4 etc. bezeichnet wird, charakteristisch abweicht. An der štanga sind nämlich außer der mánega noch 3 arkeč befestigt, welche in der Weise angebracht sind, wie ich es mit meiner bescheidenen Zeichenkunst darzustellen versuche5. Es sind Gerten aus Weiden |2| oder Hasel, die durch einen Drat [sic] zusammengehalten werden. Sie dienen dazu, das geschnittene Gras (resp. Getreide in anderen Gegenden, da ich dieselbe Sense auch anderwärts sah), sofort im Schnitt selbst aufzufangen, so dass es ohne Mühe in regelrechte Schwaden gelegt werden kann und die andána des Schnitters entsteht. Diese ark eč und das Bild einer holen [sic] Hand liegen wohl nicht zuweit auseinander. Was mich hinderte, somit einfach das für’s Prov. aufgestellte vŏla als Ethymon [sic] für bramil hinzustellen[,] sind weitere Spuren, denen nachzugehen mir augenblicklich abliegt, da ich genug zu thun habe, die Lautentwicklung im Rom.[anischen] imer [sic] zu werten[,] ehe ich in kulturell-etymologische Untersuchungen komme. Vor allem glaube ich, dass man gar nicht von bramil ausgehen darf. Da das nprv6. voulame nicht Sense[,] sondern Sichel bedeutet[,] ist vielleicht im Berg.[amaskischen] von einem Wort *blamár auszugehen[,] dessen Existenz ich leider nicht nachgehen kann, das im Gegensatz zu ŗanžár (radiare) eine andere Art zu Mähen bezeichnen würde (vermittelst der vŏla); und hier kann ich mich infolge der lautlichen Gestaltung des Gedankens nicht erwehren, dass trotz des begrifflich so gut stimmenden |3| lateinischen Ethymons [sic] das griechische βλήμα[,] auf das schon Tir.[aboschi] verweist [Bagol7. Blam bedeutet überhaupt „Sense“][,] nicht ohne Einfluss war. Jedenfalls ist es auffallend, dass im Ostlombardischen das lateinische falx ausgestorben ist (Lomb. Lad. Parad. 34)8, und die deverbal gebildeten Formen für „Sense“ von Ort zu Ort wechseln[,] als wäre dieses wichtige Instrument seinerzeit nicht bekannt gewesen. Das Getreide wird in diesen Gegenden[,] d. h. in Südtirol[,] noch heute nur mit der Sichel geschnitten ( šežla) und beide Arten von Sense dienen ausschließlich zum Heumachen. Ich, wie gesagt, traue mich noch nicht, in solche Probleme, die mir hinter dem einfachen blamil heraufzudämmern scheinen, richtig einzudringen, da mir die romanistische Basis derartiger Studien noch zu schaffen macht und meine Zeit beansprucht. Sollte aber dieses in dem berg.[amaskischen] Wörterbuch von [Auslassung: gemeint ist wohl Tiraboschi] nicht publizierte Material, das mir bekannt wurde, Herrn Hofrat verwertbar scheinen, so hätten diese meine diesbezüglichen Notitzen [sic] ihren Beruf erfüllt.
Ich schreibe heute am Sonntag und kann daher nicht neuerdings den Mistral9 konsultieren.
Indem ich nochmals für den Brief danke, was ich nicht besser als mit dieser Beantwortung ausdrücken |4| kann, verbleibe ich hochachtungsvoll
Ihr
ergebenster
Karl Ettmayer
1 Antonio Tiraboschi (1867): Vocabolario dei dialetti antichi e moderni, Bergamo: Bolis. A. Tiraboschi (1838-1883) war ein lombardischer Historiker und Linguist.
2 Eine der im Jahr 1901 von Ettmayer besuchten Ortschaften, etwa 18 km nördlich von Bergamo gelegen. Der Dialekt dieser Ortschaft wurde erneut im Jahr 1927 von Paul Scheuermeier für den italienischen Sprachatlas AIS untersucht. Die dabei erhobenen Daten figurieren im AIS unter der Messpunkt-Nummer 244.
3 In REW (9430a) wird dafür ein keltisches Etymon (*VOLAM(M)O(S) „Sichel“) favorisiert. Jüngere Ansätze bevorzugen die Annahme einer vorlateinischen (keltischen) Basis *bidla/*bidlo mit der Bedeutung „ceppo, tronco scisso“: cf. dazu Bianchini, Giovanni / Bracchi, Remo: Dizionario etimologico dei dialetti della Val Tartano, Tirano: IDEVV 2003 , 88 (s. v. bgiàm, biàm, S. 88).
4 Dieser im Oberitalien weit verbreitete Typ ist etymologisch schwierig. Das REW (6989) schließt sich nur zögernd dem von Ettmayer postulierten Ursprung (zur Familie von lat. RADIARE) an. Seit 1937 ( Renato Agostino Stampa: Contributo al lessico preromanzo dei dialetti lombardo-alpini, Halle, Leipzig: Niemeyer , 123) wird eine vorlateinische (keltische) Basis *randia mit der Bedeutung „punta, vertice, fila della lama“ präferiert. Siehe dazu auch: Antonioli, Gabriele / Bracchi, Remo (1995): Dizionario etimologico grosino, Grosio. Biblioteca comunale, Museo del Costume , s. v. ränȥa (S. 685).
5 Ettmayer argumentiert hier voll und ganz in der Tradition der Forschungsrichtung „Wörter und Sachen“, die sowohl von W. Meyer-Lübke wie von H. Schuchardt sehr geschätzt wurde. Zwischen 1909 und 1943 erschien unter diesem Namen eine eigene Zeitschrift.
6 neuprovenzalisch, -e
7 Die fragliche Ortschaft heißt Bagolino und liegt knapp westlich der Grenze des Trentino (Welschtirols) in der Nähe des Idro-Sees. Ihr (vermöge seines Mischungscharakters sehr interessanter) Dialekt wurde mehrfach untersucht: bei Ettmayer 1902 (Ort 49) und in den Sprachatlanten AIS (Messpunkt 249) sowie ALD (Messpunkt 36). Die Form blam kommt dort überall vor: Ettmayer 1902: Paradigma 34, AIS: Karte 1403, ALD-I: Karte 267 (la falce fienaia)
8 Ettmayer bezieht sich auf das Merkmal („Paradigma“) 34 (falce) seiner 1902 publizierten Dissertation; zu einer diesbezüglichen Daten-Synopse cf. Goebl 1995, 27.
9 Ettmayer denkt hier unzweifelhaft an das große, allen Dialekten Südfrankreichs gewidmete Wörterbuch von Frédéric Mistral (1830-1914) mit dem Titel: Lou Trésor dóu Félibrige ou Dictionnaire Provençal-Français embrassant les divers dialectes de la langue d’oc moderne, Aix-en-Provence: Remondet Aubin, 1878, 2 vol.