Elise Richter an Hugo Schuchardt (61-9569)

von Elise Richter

an Hugo Schuchardt

Bad Gastein

28. 07. 1923

language Deutsch

Schlagwörter: Universitäre Lehre Universität Wien Publikationsvorhaben De Spiegel van Handel en Wandel Etymologie Dankschreiben Publikationsversand Sprachwissenschaft (Traditionen, Schulen und Strömungen) Wissenschaftstheoretische Reflexion Sprachwissenschaftlanguage Portugiesischlanguage Englischlanguage Französischlanguage Englischbasierte Kreolsprachen (Surinam) Messing, Ewald Eberhard Johannes Indien Richter, Elise (1924–1928) Richter, Elise (1928) Schuchardt, Hugo (1923) Eismann, Wolfgang/Hurch, Bernhard (2008)

Zitiervorschlag: Elise Richter an Hugo Schuchardt (61-9569). Bad Gastein, 28. 07. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2009). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.329, abgerufen am 02. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.329.

Printedition: Hurch, Bernhard (2009): "Wir haben die Zähigkeit des jüdischen Blutes!" Leo Spitzer an Elise Richter. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 72., S. 199-244.


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Bad Gastein, Evangelisches Hospiz 28 Juli 23.

Hochverehrter Herr Hofrat,

Halten Sie mich nicht für undankbar, dass ich Ihnen erst heut antworte. Ihr Brief war sehr gütig; natürlich gab ich Ihnen recht, und das war es ja, was mich so ärgerte, dass ich eine gedankenlose Unvorsichtigkeit begangen hatte, die ein alter Mensch eben nicht begehen sollte. Ich habe sie weidlich gebüsst.1

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Ich weiss nicht, ob die Sache jetzt vorüber ist, jedenfalls nötigte sie mich nicht von der Abhaltung des Semesters zurück zu treten, obzwar ich eigentlich die Absicht hatte, es abzusagen, da ich schwer leidend und mit einer mühsamen Arbeit beschäftigt war, die ich gern in Ruhe zu ende gebracht hätte, was so aber nicht bewerkstelligt werden konnte. Ich arbeite nämlich "Tabak-Trafik"2 für die handelsprachliche Zeitschrift, die Dr. Messing in Rotter|3|dam herausgibt, und bin bei dem Wort Zigarre3 zu der Ueberzeugung gelangt, dass es überseeischen Ursprungs sein und irgend ein Umhüllungsblatt bezeichnen muss; ich habe als Stütze die Entwicklung von Ptg.charuto = engl.churut (in verschiedenen Schreibungen), als sharoot, frz.chitou [?]; es ist das mittelamerikan. chala = Hülse des Maiskolbens in die die Tabakblätter gewickelt wurden (und dort noch werden). Die Portugiesen schleppten es nach Ostasien, und von Indien brachten es die Engländer heim. Aber ich suche vergebens in den ameri|4|kanischen Sprachen das schlagende Wort. Ich habe nämlich viele mögliche Erklärungen und das ist natürlich nicht das Richtige.

Nun muss ich Ihnen aber noch für Ihre gütigen Zusendungen danken. "Individualität"4 hat mich erst hier lesefähig gefunden, nachdem ich mich ein bischen erholt hatte. Ich habe es sehr genossen. Ihre persönlichen Erinnerungen haben mir auch Freude gemacht. Ich wusste nicht, dass Paul5 einmal Ihr Hörer war. Mit der "Schule" ist es ja eigen. So zb. haben Sie keine "Schüler" – oder fast keine – im allerengsten Sinn, und doch sind Sie immer allen Meister und haben der ganzen jetzigen Sprachwissenschaft die Richtung gegeben!

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Mit den besten Wünschen für den Sommer

Ihre treu ergebene

Elise Richter


1 Diese Position der Briefschreiberin mutet gerade im historischen Rückblick und im Lichte ihrer eigenen Geschichte nahezu beklemmend an.

2 Elise Richter (1924-1928).

3 Der Aufsatz erscheint erst einige Jahre später: Elise Richter (1928d). Richter verfaßt zum Thema Tabak noch andere Schriften wie ER (1927-1928).

4 Hugo Schuchardt (1923a).

5 Hermann Paul (1846-1921) deutscher Germanist, führender Junggrammatiker und Theoretiker der Schule in zweiter Generation, Autor zahlreicher Klassiker der germanistischen Sprachwissenschaft, der Prinzipien des Sprachwandels, etc. Die Alterssicht Schuchardts, Hermann Paul wäre sein Hörer (in einem Brief an Baudouin de Courtenay aus dem Jahre 1903 bezeichnet er ihn als seinen Leipziger Famulus, Wolfgang Eismann & Bernhard Hurch, Hg., 2008: 96f.) gewesen, entspricht nur sehr bedingt den Umständen. Es gibt im Nachlaß Schuchardt nur einen einzigen recht verhalten-aufklärenden Brief Pauls an HS unter der Nr. 8684; zwischen Richter und Paul scheint es keinen Briefwechsel gegeben zu haben.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 9569)