Elise Richter an Hugo Schuchardt (56-9567)
von Elise Richter
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
12. 03. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Publikationsversand Neue Freie Presse Politik- und Zeitgeschichte Nationalismus Habilitation Bitte um wissenschaftliche Meinung Zeitschrift für romanische Philologie Publikationsvorhaben Wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversen Sonderabdruck Abonnements (Zeitschriften) Universitäre Lehre Wörter und Sachen [Zeitschrift] Richter, Elise (1922)
Zitiervorschlag: Elise Richter an Hugo Schuchardt (56-9567). Unbekannt, 12. 03. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2009). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.327, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.327.
Printedition: Hurch, Bernhard (2009): "Wir haben die Zähigkeit des jüdischen Blutes!" Leo Spitzer an Elise Richter. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 72., S. 199-244.
[XIX Karl Ludwig-Strasse 69] 12 März 23
Hochverehrter Herr Hofrat,1
Gestern erlaubte ich mir Ihnen meinen Aufsatz über Rasse Volk Sprache zu schicken, allerdings zögernd, weil ich mir die Frage stellte, ob Sie nicht die NFrPr. ohnehin sehen und ob der Aufsatz wert ist, verschickt zu werden. Ich zögere aber nicht, Ihnen heut die merkwürdige Fortsetzung zu senden, die der Aufsatz gefunden hat.2 Es war mir schon mitgeteilt worden, dass die Deutschnationalen einen Putsch gegen mich beabsichtigen. 3 Ich bereitete mich also für letzten Samstag, - an dem das Semester geschlossen wurde, auf 1) eine Stunde pompeijanische Inschriften, 2) eine Stunde Grundlinien der Sprachwissenschaft und 3) einen Putsch vor. Es ereignete sich aber nichts und ich war der Meinung, es wäre wol kaum möglich, etwas Ernstliches zu erreichen, da es doch schießlich Fabelwahrheiten sind, die ich "verbreitet" habe. Mit Deutschnationalen ist aber freilich nicht zu rechten. Die Brutalität des beiliegenden Artikels ist aber fast noch überraschender als die verhältnismäßig geringe wissenschaftliche Ausbeute. Ich bitte Sie herzlichst, hochverehrter Herr Hofrat, wenn es Ihnen nicht unbequem fällt, mir unumwunden zu schreiben, ob mein Artikel in Ihnen den Ge|2|danken aufkommen liess, dass damit die "Axt" an das Gemeingefühl des Deutschtums gelegt, dass den Feinden der Landraub erleichtert wird; haben Sie es entbehrt, dass ich nicht besonders erwähnte, die Deutsche[n] seien auch Germanen? Wenn Sie mir schreiben, dass ich gegen das Deutschtum verstossen habe, will ich es glauben. Much,4 der von jeher mein persönlicher Feind ist, der meiner Habilitation (nicht aus wissenschaftlichen Gründen sondern aus anderen) Schwierigkeiten in den Weg legte, wird mir natürlich schaden, so viel er kann. Sie werden sagen, heil dem, der aus diesem Hexenkessel ist, wie Sie selbst. Ich könnte aber nie daran denken, zurück zu treten, weil ich ja damit denen, die mich weg ekeln wollten, immer das grösste Vergnügen gemacht hätte, und das gönne ich ihnen nicht. (Ganz abgesehen davon, dass ich meine Lehrtätigkeit sehr liebe!)
Ich habe trotz sehr minderer physischer Gesundheit diesen Winter wieder etwas mehr gearbeitet und bin sehr begierig auf Ihr Urteil über einen im nächsten Heft ZRPh kommenden Aufsatz "Zur Klärung der Wortstellungsfragen".5 Ich setze voraus, dass Sie alle diese Zeitschriften abonniert haben und übersende daher keine Sonderabzüge. Verzeihen Sie diesen langen Erguss!
In alter Ergebenheit
Ihre
Elise Richter
1 Richter versucht in ihrem Beitrag eine über Kultur und Sprache vermittelte Volksdefinition herauszuarbeiten und stößt damit auf vehementeste Ablehnung in Kreisen Deutschnationaler Kollegen.
2 Der germanistische Kollege Much antwortet Richter mit sehr deutlichen Worten ebenfalls in der NFP.
3 Die deutschnationalen Studenten waren beim Dekan interveniert, um ein Dienstverfahren gegen Richter zu erreichen.
4 Rudolf Much (1862-1936) Wiener Germanist, Sprach- und Kulturhistoriker, Volkskundler. Arbeitet vorwiegend über altgermanistische Themen (Stammsitze, Religionsgeschichte, Mythologie, Namenkunde, deutsche Rechtsgeschichte); Kommentar zu Tacitus' Germania. Vehementer Vertreter großdeutscher Ideologie österreichischer Prägung, aber auch kritische Positionen zu Nationalsozialisten. Mitherausgeber von Wörter und Sachen. Stand mit Schuchardt nicht in Briefwechsel.