Josef Brüch an Hugo Schuchardt (08-01408)
von Josef Brüch
an Hugo Schuchardt
28. 01. 1926
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Geschichte der Sprachforschung Universität Prag Universität Wien Reflexion über wissenschaftliche Schulen Universität Riga Bibliotheken und Bibliothekswesen Universität Innsbruck Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Berufungen Glückwünsche Universität Gießen Deutsch Meyer-Lübke, Wilhelm Godefroy, Frédéric Mistral, Frédéric Pallioppi, Emil Spano, Giovanni Behrens, Dietrich Gamillscheg, Ernst Winkler, Emil Wagner, Max Leopold Mistral, Frédéric (1878) Pallioppi, Emil/Pallioppi, Zaccaria (1895)
Zitiervorschlag: Josef Brüch an Hugo Schuchardt (08-01408). Riga, 28. 01. 1926. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3260, abgerufen am 17. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3260.
Riga, am 28. Jänner 1926.
Mühlenstr. 31, W. 39
Hochverehrter Herr Hofrat!
Für die Zusendung Ihrer jüngsten Schrift1, die ich erst gestern im Professorenzimmer unserer Fakultät vorgefunden habe, danke ich bestens. Ich habe sie gleich am Abend gelesen und die Lektüre hat mir ein reizvolles Stündchen bereitet. Sie sollten, verehrter Herr Hofrat, Ihre Erinnerungen schreiben, die bei der Länge Ihres Lebens und der Vielseitigkeit Ihrer sprachwissenschaftlichen Tätigkeit eine Geschichte der sprachwissenschaftlichen Forschung seit 1860 werden würden. Die in Ihrer jüngsten Schrift ausgesprochenen Ansichten allgemeiner Art sind durchaus die meinen, ausgenommen die über die künstlichen Sprachen.2 Ihre Schrift hat mich besonders deshalb interessiert, weil ich, wie ich behaupten darf, im kleinen ähnliche Bestrebungen verfolge wie Sie sie im großen durchgeführt haben. Betreiben wir doch beide speziell die roma- |2| nische Wortforschung mit gelegentlichen Ausflügen in das Gebiet anderer Sprachen. Da ich als Egerländer meine vier Universitätsjahre an der deutschen Universität in Prag verbracht habe unter Freymond3, der ein Kenner der altfranzösischen Literatur, keineswegs ein Forscher in ihr war, auf dem Gebiete der rom. Sprachwissenschaft dagegen es nie zu eigenem Urteil, geschweige denn zu eigener Forschung brachte, da ich ferner bei Meyer-Lübke in Wien nur ein Semester und noch dazu ein kurzes Sommersemester verbrachte, so bin ich als rom. Linguist niemandes Schüler, wenn man unter „Schüler sein“ die persönliche Beeinflußung versteht, dagegen nur Ihr Schüler, wenn man darunter die Erlernung einer wissenschaftlichen Arbeitsmethode aus den Schriften eines älteren begreift. Daß ich niemandes „Schüler“ bin, rächt sich natürlch in meiner äußeren Laufbahn. Wegen dieses Umstandes sitze ich mit 40 Jahren trotz Veröffentlichung eines annehmbaren Buches4 und zahlreicher Aufsätze in sprachwissenschaftli- |3| chen Zeitschriften in – Riga, 1000 Kilometer vom Sitz jeder großen Bibliothek entfernt, als „Ausländer“ an einer nichtdeutschen Universität5 und am Ort einer Universitätsbibliothek, die weder Godefroy noch Mistral noch Pallioppi noch Spano noch Dialektwörterbücher, auch keine wissenschaftlichen Zeitschriften besitzt.6 Da ich selbst wegen der Geringheit meiner Mittel nur eine sehr dürftige Privatbibliothek besitze, so ist meine wissenschaftliche Tätigkeit, seit ich in Riga bin, auf das schwerste behindert. In Deutschland kann ich nichts werden, weil ich kein Literarhistoriker bin und die maßgebenden älteren Romanisten der deutschen Universitäten Literarhistoriker sind mit Ausnahme von Meyer-Lübke, der sich um micht nicht kümmert, und von Dietrich Behrens7. Die Innsbrucker Fakultät hat mich zwar als Nachfolger Gamillschegs8 auf dessen Veranlassung hin primo loco vorgeschlagen, aber zugleich erfahren, daß die Ernennung eines Ordinarius nicht beabsichtigt sei, da in Emil Winkler, der – nebenbei bemerkt – viel jünger ist als ich, schon |4| ein Ordinarius der rom. Philologie in Innsbruck vorhanden ist9. Jetzt liegt die Sache seit Monaten in einem Wiener Ministerialbureau. Um wieder in ein Kulturland zu kommen, habe ich erklärt, auch als Extraordinarius nach Innsbruck zu gehen, obwohl ich hier Ordinarius bin, Gamillscheg Ordinarius war. In Berlin ist der Extraordinarius M. L. Wagner10 vom Ordinarius Gamillscheg abgelöst worden. In Österreich wird der Ordinarius der rom. Philologie einen Extraordinarius zum Nachfolger haben,wenn „alles gut geht“.
Verzeihen Sie, verehrter Herr Hofrat, diese persönlichen Mitteilungen, die Sie vielleicht gar nicht interessieren, mit denen ich aber mein Herz einmal ausgeschüttet habe. Ich habe ja nicht viele, gegen die ich es ausschütten kann. Nur der persönliche Ton Ihrer jüngsten Schrift hat mich ermutigt, Sie mit persönlichen Klagen zu behelligen. Zu Ihrem 84. Geburtstag am 4. Feber rufe ich Ihnen aus ganzem Herzen zu: ad multos annos in sanitate!11 Und verbleibe in Verehrung
Ihr ergebener
Josef Brüch
1 „Der Individualismus in der Sprachforschung“, Sb. d. Wien. Ak. 204/2, 1925, 1-21.
2 Ebd. 15.
3 Emile Freymond (1855-1918), war von 1901 bis zu seinem Tod o. Prof. in Prag.
4 Gem. ist die in Brief 01402 erwähnte Habilitationsschrift.
5 Das Rigaer Herder-Institut (auch Herder-Hochschule Riga) war 1920 auf Intiative des Staats- und Wirtschaftswissenschaftlers Wilhelm Klumberg (1886-1942) als deutschsprachige Bildungseinrichtung in der Republik Lettland gegründet, am 15.9.1921 feierlich eröffnet und 1927 vom Lettischen Parlament als Hochschule anerkannt worden. Infolge des Hitler-Stalinpakts und der darin vorgesehenen Aussiedlung aller Deutschbalten, wurde diese äußerst erfolgreiche Hochschule 1939 geschlossen.
6 Frédéric Godefroy, Dictionnaire de l'ancienne langue francaise et de tous ses dialectes du 9. -15. Siecle , 10 Bde., Paris 1881-1902; Frédéric Mistral, Lou tresor dóu felibrige ou dictionnaire provençal-français: embrassent les divers dialectes de la langue d'oc moderne, Aix-en-Provence 1878; Vocabolario italiano-sardo e sardo-italiano compilato dal Canonico Giovanni Spano = Vocabolariu italianu-sardu et sardu-italianu / compiladu dai su Canonigu Johanne Ispanu, Cagliari 1851-52; Dizionari dels idioms romauntschs d'Engiadin'ota e bassa, della Val Müstair, da Bravuogn e Filisur / con particulera consideraziun del idiom d'Engiadin'ota da Zaccaria Pallioppi, bap ed Emil Palioppi, figl., Samedan 1893-95.
7 Dietrich Behrens (1859-1929) lehrte seit 1891 als Ordinarius an der Universität Gießen und gab seit diesem Jahr in alleiniger Verantwortung die Zeitschrift für französische Sprache und Literatur heraus, in der Brüch mehrfach publiziert hat, z.B. 45, 1919, 135f., 147f. u. ö.
8 S. o., Kurzbiographie Brüchs
9 Emil Winkler (1891-1942) war 1921 Innsbrucker Extraordinarius, 1925 Ordinarius geworden.
10 Max Leopold Wagner (1880-1962), seit 1922 Berliner Extraordinarius, war 1924 wegen § 175 (Homosexualität) entlassen worden und arbeitete danach als Privatgelehrter.
11 Etwa: „Noch viele und gesunde Jahre!“