Philipp August Becker an Hugo Schuchardt (02-00890)
an Hugo Schuchardt
18. 04. 1916
Deutsch
Schlagwörter: Wörterbücher Magyar Tudományos Akadémia (Budapest) Magyar Nyelvör Sprachpflege Egyetemes philologiai közlöny Zeitschriften- und Zeitungsgeschichte Vergleichende Sprachwissenschaft Klassische Philologie Ungarisch Schroeder, Leopold von Simonyi, Zsigmond Ballagi, Aladár Szarvas, Gabor Szily, Kálmán Simonyi, Siegmund (1907)
Zitiervorschlag: Philipp August Becker an Hugo Schuchardt (02-00890). Wien, 18. 04. 1916. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3226, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3226.
Wien, den 18. April 1916
Hochverehrter Herr Hofrat!
Herr Professor v. Schroeder1 fragte mich in Ihrem Namen, was der Grund der anscheinend gegen Simonyi2 bestehenden feindseligen Stimmung ist. Ich will versuchen, die Sache so darzustellen, wie sie mir erscheint; selbstverständlich weiss ich nur, was ich sehen konnte, d.h. sehr wenig.
Schon lange sammelte sich langsam eine gewisse Abneigung gegen Simonyi, die, soviel ich sehe, in einer gar zu geschäftsmässigen |2|Ausnützung aller Vorteile der Unterstützungen der Akademie für verschiedene Wörterbücher, die meist etwas oberflächlich aus den Zettelsammlungen der Studenten zusammengestellt wurden, ihren Grund hatte. In diese gespannte Stimmung schlug nun um 1903 das durch Ballagi3 entfesselte Ungewitter ein. Er nahm – teils aus persönlichen Gründen, teils aus Interesse an der Sache – das historische Wörterbuch der Ung. Spr. scharf ins Gebet, und blieb in der daran anknüpfenden Polemik insofern Sieger, als er Simonyi bei der Akademie schädigte und seine |3|Wahl zum Dekan vereitelte. In jener Zeit war Szarvas4 gestorben und Simonyi hatte den Nyelvör übernommen; hier führte er den Kampf für das, was er als sprachrichtig hält – sagen wir als ungarischer Vaugelas5, nicht ohne Verdienst, aber wie alle solche Schulmeisterei der Sprache schliesslich zur Last der Geschulmeisterten.
Unterdessen war Szily Kálmán6, der Generalsekretar der Akademie, von seinen naturwissenschaftlichen Studien nach und nach zu sprachgeschichtlichen geführt worden, und er gab die Anregung zur Gründung |4|der neuen Gesellschaft und ihres Organs Magyar Nyelv,7 gewiss mit einer kleinen Pointe gegen Simonyi,8 aber andererseits auch in Vertretung durchaus berechtigter Gesichtspunkte.
Neuerdings scheint es nun, dass Simonyi eine etwas stark persönliche Fehde gegen alle ungarische Fachzeitschriften, Magy. Nyelv, Philol. Közlöny9, führt, indem er deren Sprachgefühl anzweifelt – ob mit Recht kann ich nicht beurteilen.
Im ganzen habe ich den Eindruck, dass Simonyi neben unzweifelhaften Verdiensten |5|seine Schwächen hatte, die persönliche Feinde wie Ballagi in gehässiger Weise ausnützten, um ihn zu schädigen, und dass Simonyi sich verärgern und verbittern liess und durch unnötige Polemik den Streit in das Unendliche fortsetzt.
Wenn an den Vorwürfen, die man ihm machte, sachlich gewiss manches berechtigt war, so war der Ton jedenfalls ein durchaus ungerechter. Man übersah geflissentlich, dass vieles erst durch diese jahrelang fortgesetzte Sammelarbeit bekannt gemacht und geklärt worden war, und |6|dass ohne Simonyis Leistungen eine Kritik dieser Leistungen nicht möglich gewesen wäre.
Ich weiss nicht, ob diese Bemerkungen, die mir schriftlich niedergelegt nicht recht gefallen wollen, Ihre Frage richtig und genügend beantworten.
Ich möchte aber die Gelegenheit, die sich einmal bietet, wahrnehmen um Sie, Hochverehrter Herr Hofrat, zu bitten, die Versicherung meiner |7| steten und ausnehmenden Verehrung und Ergebenheit entgegennehmen zu wollen.
In vorzüglicher Hochachtung
PhAug Becker
1 Leopold von Schroeder (1851-1920) war ein deutsch-baltischer Indologe, 1896 o. Prof. Innsbruck, 1899 Wien, sowohl mit Schuchardt (vgl. die Briefe Nr. 10205-10230), als auch mit Becker bekannt, dessen Fakultätskollege er zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes war.
2 Zsigmond (Siegmund) Simonyi (1853-1919) [er hieß bis 1874 Steiner] war ein ungarischer Sprachwissenschaftler, der an der Univ. (Buda)Pest Ungarisch, Vergleichende Sprachwissenschaft und Klassische Philologie studiert hatte. Nach Studienaufenthalten in Leipzig, Berlin und Paris kehrte er 1876 nach (Buda)Pest zurück und habilitierte sich dort 1877 für ungarische Sprachwissenschaft. 1885 wurde er ao., 1889 o. Prof. für dieses Fach. Seit 1879 war er korr., seit 1893 o. Mitglied der Ung. Akad. d. Wiss. Epochemachend ist sein sprachhistorisches Wörterbuch Magyar nyelvtörténeti szótár a legrégibb nyelvemlékektöl a nyelvújításig, 3 Bde., Budapest 1890-93 (=Ungarisches sprachgeschichtliches Wörterbuch von den ältesten Sprachdenkmälern bis zur Sprachneuerung), das er gemeinsam mit Gábor Szarvas (1832-1895) hrsg. hatte.. Er war nach Szarvas‘ Tod 1895 neuer Hrsg. des Magyar nyelvör, Budapest 1872-1940 (=Ungarischer Sprachwart) geworden. Sein Buch über Geschichte und Charakter der ung. Sprache ist auch in einer deutschen Bearbeitung erschienen, vgl. ÖBL 12, 2001-2005, 287. Seine Briefe an Schuchardt tragen die Nr. 10594-10691.
3 Aladár Ballagi (1853-1921), Sohn des bekannten ungarischer Sprachforschers u. Theologen Mór Ballagi (1815-1891) und selber Sprachforscher, hatte das Magyar nyelvtörténeti einer harschen Kritik unterworfen: Régi magyar nyelvünk és a Nyelvtörténeti Szótár , Budapest 1903 (=Das ältere Ungarisch und das sprachhistorische Wörterbuch), die jedoch später von positivistischer Seite als amateurhaft zurückgewiesen wurde, z.B. von János Melich (1872-1963). Vgl. zu den Einzelheiten dieser Auseinandersetzung Krisztina Fehér, „ Hungarian historical anthroponymy within the context of language theory and the history of science “, in: Atti del XXII Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche. Pisa, 28 agosto-4 settembre 2005, Bd. I, Pisa 2007, 495-504. - Simonyi replizierte gegen „die tendentiöse und anmaßende Kritik Aladár Ballagis“ mit „A Nyelvtörténeti Szótáróll“ (=Über das sprachgeschichtliche Wörterbuch) in: Nyelvészetí Füzetek 15.
4 Szarvas war am 12.10.1895 verstorben. – Vgl. seine Briefe an Schuchardt (Nr. 11478-11488).
5 Claude Favre de Vaugelas (1585-1650) war ein bedeutender französischer Sprachnormierer, dessen Remarques sur la langue française (1647) bis heute nachwirken.
6 Szily Kálmán (1838-1924) war ein angesehener ungar. Sprachforscher und Verf. von A Magyar Nyelvujitás Szótára a kedveltebb képzök és jegyzékével (=Wörterbuch der ungarischen Sprachneuerung nebst einem Verzeichnis der beliebteren Suffixe und Bildungsarten, Budapest 1902). - Vgl. seine Briefe an Schuchardt (Nr. 11497-11523).
7 Magyar Nyelv (=Die ungarische Sprache), Budapest: Magyar Nyelvtudományi Társaság, 1, 1905f.; Egyetemes philologiai közlöny (=Allgemeiner philologischer Anzeiger), Budapest: Akad., 1.1877 - 71.1948. Die „Magyar Nyelvtudományi Társaság“ ist die „Gesellschaft für ungarische Sprachwissenschaft“, die 1904 von Kálmán ins Leben gerufen wurde. – Schuchardt hat mehrfach auf Ungarisch in Magyar Nyelv (=Ungarische Sprache) bzw. Magyar Nyelvör (=Ungarischer Sprachwart) publiziert.
8 Die Pointe könnte darin bestehen, daß Simonyis wichtigstes Werk den Titel A Magyar Nyelv, Budapest 1889 u. ö. (dt. Straßburg 1907 u. ö. unter dem Titel Die ungarische Sprache: Geschichte und Charakteristik) trägt und die neugegründete Zeitschrift bis auf den Artikel namensgleich ist.
9 Becker hatte nach seiner Berufung nach Not in (Buda)Pest schnell so gut Ungarisch gelernt, dass er seine umstrittene Geschichte der spanischen Literatur in dem der lateinischen und den romanischen Literaturen gewidmeten Teil II ( Rómaiak és románok , 1905) der von seinem Pester Kollegen Gustav Heinrich (Heinrich Gusztáv, 1845-1922) hrsg. Geschichte der Weltliteratur (Egyetemes irodalomtörténet, 1903) zunächst auf Ungarisch verfaßt hatte.