Heinrich Schneegans an Hugo Schuchardt (01-10134)

von Heinrich Schneegans

an Hugo Schuchardt

Straßburg

23. 01. 1898

language Deutsch

Schlagwörter: Bitte um wissenschaftliche Meinung Diphthongierung (Lautwandel) Publikationsvorhaben

Zitiervorschlag: Heinrich Schneegans an Hugo Schuchardt (01-10134). Straßburg, 23. 01. 1898. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3199, abgerufen am 29. 11. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3199.


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Straßburg den 23 Januar

Hochgeehrter Herr Professor!

Anbei erlaube ich mir Ihnen das Résumé meines Vortrags auf der Philologenversammlung zu schicken. Ich vermute, daß die aufgeworfene Frage Sie besonders interessieren wird und möchte mir bei derselben Gelegenheit erlauben, Sie zu fragen, ob Sie vielleicht ähnliche Beobachtungen einmal gemacht haben. Die Ansichten über |2| meine Theorie sind sehr geteilt. Morf erklärte sich ganz entschieden dagegen, Suchier vertrat einen etwas weniger entschiedenen, aber doch entgegengesetzten Standpunkt, ebenso Voretzsch. Tobler, dem ich die Sache später in Berlin auseinandersetzte, erklärte sich dagegen eher für meine Theorie, ebenso Gröber und Koschwitz. Es wäre mir von großem Werte zu erfahren, wie Sie dazu stehen. Wenn ich zum Schluß die Vermutung ausspreche, daß der Affect in letzter Instanz die Ursache der Diphthongierung |3| ist, so will ich dadurch die lautliche Erscheinung nicht beseitigen. Ich meine nur, daß der Affect eben der treibende Factor war, der die Bremsung der kurzen Vocale veranlaßt hat, ebenso wie das Trägheitsgesetz die Erweichung der tenuis zur media in der Zeit, wo die Sprache ganz verwahrlost war, verursachte. Einige lautliche Erscheinungen, auslautendes a, ŏ, ĕ scheinen sich der Wirkung des philologischen Gesetzes entgegenzustellen, ebenso gewisse consonantische Zusammen|4|stellungen. Ich will den Vortrag erst veröffentlichen, wenn ich mehr Stoff habe, wäre Ihnen aber sehr dankbar, wenn Sie mir vielleicht Ihre Ansicht mitteilen wollen. Prof. Luick, der den Vortrag mit anhörte, ist auch etwas skeptisch. Indem ich Sie bitte, ihn von mir bestens zu grüßen

Verbleibe ich in vorzüglicher Hochachtung und mit der Bitte, die Freiheit, die ich mir nehme, entschuldigen zu wollen

Ihr ergebener

H Schneegans
Dietrichstaden 4

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10134)