Leipzig, 11 . Februar 1912
Lieber Freund.
Mein Gruß zu Ihrem [70. Geburtstag](https://gams.uni-graz.at/o:hsa.subjects#S.261) kommt eine Woche zu spät.Schuchardt wurde am 04.02.1842 im thüringischen Gotha geboren. Ich wollte mir den Tag merken und glaubte ihn nicht vergessen zu können. Geschehen ist es doch. Aber Sie nehmen auch nachträglich hoffe ich meinen Brief freundlich auf. Einem siebenzigjährigen mit einer langen Liste von Wünschen zu kommen, hat eigentlich keinen Sinn. Man kann eigentlich nur die Hoffnung aussprechen, daß die Lebensjahre, die noch bleiben, ohne große Leiden verlaufen mögen und daß eine gewisse Lebensfreudigkeit und Arbeitsfrische bleibe. Ein bischen melancholisch wird man ja immer bei hohen Jahren; das bleibt nicht aus, aber man muß es sich möglichst vom Leibe halten. Ich muß es auch versuchen. Als ich vor zwei Jahren in mein siebenzigstes Jahr trat, war ich nahe daran in den Ruhestand zu treten und dachte wieder in diesem Jahr daran. Kinder, Freunde, Kollegen und Arzt reden mir ab und ich bleibe, muß aber ehrlich sagen, daß es eigentlich nicht richtig ist. Ich habe am Dozieren keinen Geschmack mehr, und ich will es nur gestehen, auch die Slavistik liegt mir nicht mehr besonders am Herzen. Sie haben als Romanist in einer großen Gesellschaft von Mitstreitern gestanden; die [Romanistik](https://gams.uni-graz.at/o:hsa.subjects#S.922) bedeutet etwas in der Welt, die [
Slavistik](https://gams.uni-graz.at/o:hsa.subjects#S.4436), in Westeuropa wenigstens, fast nichts, in Deutschland überhaupt nichts. Ich habe seit Jahren fast keinen deutschen Zuhörer mehr; Serben, Bulgaren, Russen freilich, aber die befriedigen mich nicht. Außerdem stehe ich ganz allein. Mit Jagić bin ich, wie Sie vielleicht gehört haben, ganz zerfallen, nicht aus wissenschaftlichen Gründen, sondern weil mir seine Moral nicht paßt. Ich bin nicht prüde, aber eine Grenze giebt es doch für Unaufrichtigkeit und Hinterhältigkeit, und die war von ihm überschritten.
Doch was rede ich Ihnen von solchen Dingen vor. Ich möchte lieber den Wunsch aussprechen, daß ich Sie im Laufe des Jahres einmal sähe. Ich habe es immer sehr bedauert, daß Sie nicht in
Leipzig oder in dessen Nähe sind. Von Ihnen hätte ich mehr gehabt, als wohl von allen andern, mit denen mich wissenschaftliche Fragen in Berührung gebracht haben, weil Sie gescheuter und kein Parteimensch sind. Es konnte nicht sein, aber sagen will ich Ihnen wenigstens einmal, daß Sie mir von allen Sprachforschern immer am meisten imponiert haben.
Ich will doch noch εὶς πολλὰ ἔτη hinzufügen;Griechische Form der Lobrede, etwa "auf viele Jahre". vielleicht können wir uns am 80sten Geburtstag noch begrüßen.
Mit herzlichem Gruß in alter
Freundschaft
Ihr
Leskien