August Leskien an Hugo Schuchardt (18-06436)

von August Leskien

an Hugo Schuchardt

Leipzig

30. 05. 1907

language Deutsch

Schlagwörter: Biographisches Königlich Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften Weltsprache Kasus (morphologisch) Syntax Morphologie agglutinierender Sprachbau Numeruslanguage Plansprachenlanguage Esperantolanguage Romanische Sprachenlanguage Turksprachenlanguage Deutschlanguage Französisch Schuchardt, Hugo (1907) Brugmann, Karl/Leskien, August (1907)

Zitiervorschlag: August Leskien an Hugo Schuchardt (18-06436). Leipzig, 30. 05. 1907. Hrsg. von Johannes Mücke (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3082, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3082.


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Leipzig, 30. Mai 1907

Lieber Freund.

Ihr Brief hat mich sehr erfreut, einmal wegen der Gelegenheit, die ihn hervorgerufen hat, namentlich aber, weil er mir nach langer Zeit wieder ein Lebenszeichen von Ihnen brachte. Leid ist mir nur, daß Sie Ihr altes Kopfschmerzleiden nicht los werden. Aber man kann in unsern Jahren nicht mehr viel von sich verlangen. Ich habe gerade vor einem Jahre auch eine Mahnung bekommen, daß es nicht mehr so fix |2| geht wie früher; ich wurde von einer Herzschwäche befallen und mußte das halbe Sommersemester 1906 aussetzen. Seitdem geht es mir zwar wieder gut, d.h. ich muß damit zufrieden sein, aber so kräftig und leistungsfähig wie früher bin ich nicht wieder geworden. Es geht alles langsamer und die Ermüdung tritt leichter ein. Einige Jahre möchte ich noch mitmachen. Wenn man 6 Kinder hat, so giebt es allerlei Zukunftsangelegenheiten, die man noch erledigt sehen möchte, weil man noch dabei helfen kann.

Ihre Andeutung über eine Ungerechtigkeit in der Akademie glaube ich richtig zu verstehen, aber sicher kann ich auch sagen, daß von der betreffenden Seite, |3| wenn überhaupt daran gedacht wird, Sie nicht als Gegner angesehen werden.

Auf Ihren Artikel über die Weltsprachenfrage1 bin ich sehr begierig. Daß Sie mit meiner Beurteilung des Esperanto im ganzen übereinstimmen, ist mir sehr erfreulich. Aus Ihrer brieflichen Bemerkung sehe ich, daß ich mich in Betreff des Akkusativs hätte deutlicher ausdrücken sollen. Ich meinte, wenn man einmal das Romanische als Grundlage der Deklinationsformen nahm, hätte man unter Vorschrift einer bestimmten Stellung des Objekts den Akkusativ entbehren können. Eigentlich hätte ich, wenn ich mehr Lust zu der ganzen Sache gehabt hätte, etwas Positives bringen sollen, Vorschläge, wie man |4| eine Weltsprache mit möglichst groben Mitteln deutlich in die Ohren fallend und unmißverständlich herstellen könne. Ich hätte da z. B. gesagt: seht Euch einmal die Turksprachen an, wie die das machen; at Pferd at-lar Pferde; macht Euren Plural durch so etwas weit hörbar, hängt etwa an alle Wörter multo, u.s.w. Aber die Leute, die sich bis jetzt mit Aufstellung von Weltsprachen abgegeben haben, kennen eben nichts anderes als ihr Deutsch oder >Französisch, und erfinden daher nichts zweckmäßiges.

Mit herzlichem Gruß und dem Wunsche, daß es Ihrer Gesundheit schnell besser gehe

Ihr

Leskien


1 Gemeint ist Schuchardt (1907), das anlässlich und in Reaktion auf die von Brugmann und Leskien gemeinsam herausgegebene Broschüre Zur Kritik der künstlichen Weltsprachen (Brugmann & Leskien 1907). Die Veröffentlichung enthält einen Aufsatz von Brugmann und einen von Leskien. Laut der "Vorbemerkung" (Brugmann & Leskien 1907: 3) beruhen die Texte "auf einem Gutachten, zu dessen Abgabe die Verfasser […] von der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, deren Mitglieder sie sind, aufgefordert wurden." Brugmann äußert sich in seinem Artikel über die Kunst- bzw. Welthilfssprachprojekte allgemein kritisch bis ablehnend, geht mehrmals auf Schuchardts frühere Diskussionsbeiträge ein und wirft ihm unter anderem vor, sich nur theoretisch, nicht aber praktisch mit der Thematik befasst zu haben (Brugmann 1907: 17). Leskien befasst sich dagegen kritisch mit dem Esperanto und notiert unter anderem, dass es ihm schwer gefallen sei, die Sprache zu erlernen (Leskien 1907: 37-38). Schuchardt (1907), Befürworter der Einrichtung einer künstlichen Gemeinsprache, geht auf beide Artikel ein, besonders jedoch auf die allgemeine Kritik Brugmanns.

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