Hugo Schuchardt Archiv

Graz 3 Febr. 91.

Lieber Freund,

Ich habe Ihnen noch für Ihren freundlichen Glückwunsch zu danken, obwohl demselben die thatsächliche Grundlage abging. Dass ich den Ruf nach Leipzig der mich sehr erfreute, aber auch wirklich überraschte, nicht annahm, kann Sie doch nicht Wunder nehmen; wohl aber wundere ich mich unge|2|mein dass Sie in gleicher Lage nicht zugegriffen haben. Denn – von persönlichen Beziehungen abgesehen, über die ich natürlich nicht urtheilen kann – wüsste ich nicht was Halle vorLeipzig voraus hat, und ich kenne beide Städte. Dass nun die prächtige Natur von Graz und das behaglichere, buntere, heitrere Leben Oestreichs bei mir – als Neurastheniker – |3| schwer in die Wagschale fallen mussten, liegt am Tage.

Stürzinger schätze auch ich; aber dennoch hätte ich – wäre ich gegangen – nicht an ihn denken dürfen, sondern nur an Gartner, der endlich von Czernowitz – wo es ihm ganz an Hülfsmitteln gebricht – fortkommen muss.

Wann werden wir Ihre Geschichte der galloromanischen Lautentwicklung |4| bekommen? Ihre Darstellung im Grundriss gefällt mir so gut, dass ich mich in Bezug auf die versprochene Arbeit den glänzendsten Hoffnungen hingebe. Wir haben so Etwas sehr nöthig. Auf Grund einiger allzu nachsichtigen Besprechungen von Schwans Altfr. Gramm. ¹ habe ich das Buch meinen Vorlesungen zu Grunde gelegt und komme nun aus dem Zorn gar nicht heraus. Man stellt alle Kategorien von Fehlern auf die in einem solchen Werk überhaupt möglich sind; Unklarheit, Widersprüche, schiefe Auffassung des Sprachgeschichtlichen, mangelhafte Kenntnis der Lautphysiologie, schlechte Anordnung, nicht existierende Wortformen, falsche Herleitungen, falsche lat. Quantitäten u. s. w. – alle wird man haufenweise vertreten finden. Nachdem man Jahrzehnte lang in Deutschland in dieser Ausdehnung der altfranz. Stud. an den Universitäten gehuldigt hat, kommt nichts Besseres heraus als das!

Herzlich grüssend Ihr
HS.