Hugo Schuchardt an Carolina Michaëlis de Vasconcelos (39-s.n.)

von Hugo Schuchardt

an Carolina Michaëlis de Vasconcelos

Graz

04. 02. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Sachwortforschung Spindel Spinnen und Weben Etymologie Revista Lusitana: Archivo de Estudos Philologicos e Ethnologicos relativos a Portugal Bitte um bibliographische Angaben Sprachprobe Encyclopédie française Gesundheit Publikationsvorhaben Fachsprachenlanguage Portugiesischbasierte Kreolsprachen (São Tomé)language Portugiesisch Rettich, Hugo von (1895)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Carolina Michaëlis de Vasconcelos (39-s.n.). Graz, 04. 02. 1899. Hrsg. von Bernhard Hurch (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.291, abgerufen am 28. 11. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.291.


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Graz 4 Februar 99

Hochverehrte Frau,

Wenn ich Ihnen so spät auf Ihren wiederum so schönen und reichen Brief vom 4 Dez. antworte, so hat das nicht Bummelei zur Ursache, die bei mir zuweilen auftritt, noch Gesundheitssorgen, die gerade in der letzten Zeit sich in ernstester Gestalt mir aufdrängten, sondern ich wollte, nachdem ich das ne bis in idem vernachlässigt hatte, wenigstens nicht mich des quater in idem schuldig machen. Dreimal lässt sich eine Folkloristin wie Sie noch gefallen. |2| So habe ich denn zwar schon längst, mit wörtlichen Anführungen aus Ihrem Briefe die betreffende Stelle meiner Abhandlung niedergeschrieben, bin aber erst jetzt nachdem ich mir u. A. auch Grothes Bilder und Studien zur Geschichte vom Spinnen Weben und Nähen (Berlin 1875) angeschafft habe, darüber ins Reine gekommen – worüber ich noch ins Reine zu kommen habe.

Sprechen wir zunächst von der cocca del fuso, um der italienischen Technologie zu folgen. Sie scheinen doch alle drei Formen des obern Spindelendes zu kennen die ich bei den Romanen bisher festgestellt habe. a.) das Knöpfchen. Die eine der mir gesandten Spindeln zeigt es,1 und ich vermuthe, dass sie überhaupt nicht dazu bestimmt war gekerbt zu werden (obwohl Sie ausdrücklich sagen dass solche Spindeln ungekerbt verkauft werden). Denn das Knöpfchen ist der Anbringung einer Spirale geradezu hinderlich, und überdies ist dieser Obertheil der portugiesischen Spindel, von den Grössenverhältnissen abgesehen, ganz identisch2|3| dem norditalienischer Spindeln, (aus Gegenden wo gar keine Spiralkerbe bekannt ist) b.) die Spiralkerbe α) am Spindelholz selbst angebracht β) an einer metallenen Hülse, in die das spitze obere Ende der Spindel eingezwängt ist. Ich hatte, den Beschreibungen folgend, mich des Ausdrucks "Löschhütchen" bedient. Sie sagen, sie haben nie einen mit einem Löschhütchen versehenen fuso gesehen; der eine der mir geschickten ist jedenfalls ein solcher wie ich ihn meinte. c) das Häkchen. Nur bei den parafusos oder wie Sie auch schreiben parafusas, vorhanden. Sie stellen diese als umgekehrte fusos hin, indem da das dickere Ende das obere sei. Aber das ist wohl nur zufällig. Braulio Vigón in Colunga schickt mir die Abbildung eines asturischen parafusu, der sich in seiner Funktion nicht von dem portugiesischen zu unterscheiden scheint – ich erfahre nichts darüber, auch nicht aus den Wörterbüchern: 3

|4|Das dicke Ende der ganzen Sache liegt aber für mich bei der cocca del filo, der Schlinge an der Spindel. Dieselbe hat die erläuterte Vorrichtung keineswegs nöthig; in der Gegend von Belluno hat man glatte Spindeln, also nur eine cocca del filo, keine cocca del fuso. Es stellen sich drei Fragen ein (Sie sehen ich bin pedantisch wie jener Göttinger Germanist, der über die Liebe in der mittelalterlichen Minnedichtung mit A) a) α) aa) usw. vortrug). Erstens wie ist die Schlinge beschaffen? Ich denke mir sie so: 4 also als lockern Knoten. Eine Klöppelschlinge habe ich leider nicht zu Gesichte bekommen können. Wäre ich wie es meine Absicht gewesen war, zu Weihnachten an die Adria gereist (aber nicht wegen der Spindel), so hätte ich Gelegenheit gehabt mich darüber zu unterrichten. Das ist aber von untergeordneter Wichtigkeit. Zweitens – ich glaube ich habe Ihnen das schon angedeutet – verstehe ich zwar die Schlinge in der Rundkerbe und im Häkchen, aber nicht in der Spiralkerbe. Drittens – das ist das Wesentlichste – es handelt sich nicht bloss um eine Schleife, um diejenige, die zu Anfang der ganzen Operation gebildet wird sondern um eine oder vielmehr um beliebig |5|viele andere. Rettig "Spinnradtypen"5 sagt: "Hat der Faden eine Länge von etwa 1 1/3 m. erreicht, so kann die rechte Hand die Spindel nicht mehr erfassen. Das Spinnen wird unterbrochen und das erzeugte Gespinnst oberhalb des Schwungrings auf die Spindel aufgewickelt, dann der gesponnene Fadendurch eine einfache Schlingenbildung an der Spindelspitze befestigt. Grothe a.a.O.: Bei allen diesen Spindeln wird nach erfolgter Aufwickelung der Faden schliesslich in eine Schleife herum gelegt, sodass er sich nicht rückabwickeln kann. Diese Schleife am Spindelkörper muss – soweit sie sich auch der Spitzer des Spindelkörpers nähert immer eine etwas geneigte Lage der Spindel hervorrufen, und so wird denn bald am obern Theil ein Häkchen hinzugefügt, um welches der Faden herumgeschleift wird." In der Enc. franç u.d.W. fuseau heißt es: "Quand il y a une au[l]ne et demi de fil …… du pouce de la main gauche on pousse la boucle faite sur le bout du fuseau; on la fait tomber, l'on transporte le fil sur le milieu du fuseau par une boucle, qu'on reforme toute semblable à la première. À l'aide de cette boucle, le fil roulé sur le milieu du fuseau ne se devide point lorsque le fuseau mis en mouvement est abandonné à son poids u.s.w."6 Ich gestehe offen dass ich davon keine ganz klare Anschauung habe. |6| Es kitzelt mich sehr, Ihnen einige von meinen Etymologien aufzutischen; aber wenn ich Ihnen z.B. ausserhalb des Zusammenhangs sagen wollte, was ich in port. cágado "Schlammschildkröte" erblicke, die allzuhochbemessene Achtung die Sie mir gnädigst schenken, würde auf den Gefrierpunkt herabsinken. Indessen habe ich mir vorgenommen wenn ich die Abhandlung an unsere Akademie einschicke (falls ich es erlebe!), einen ziemlich ausführlichen Auszug, der ja sofort gedruckt wird, beizufügen.

Die Rev. Lus. habe ich mir immer noch nicht bestellt, weil ich noch nicht Zeit gefunden habe jene Partie meiner Bibliothek zu ordnen und zu ermitteln wie weit ich sie besitze. Möge mir die Redaktion deshalb nicht zürnen!

– Vor geraumer Zeit bekam ich einmal ein Blatt als Probe eines Conversationsbuchs für das Kreolische von S. Thomé zugeschickt; ich habe nicht erfahren können, ob und wo das erschienen ist. Haben Sie etwa Kunde davon?

Mit dem Ausdruck meiner wärmsten Dankbarkeit und aufrichtigen Verehrung

Ihr ganz ergebener

HSchuchardt


1 Carolina Michaëlis De Vasconcellos schickte mit ihrem Brief vom 10.November 1898 (36-7333) zwei Spindeln, die heute mit den Inventarnummern ÖMV/63.423 und ÖMV/63.428 in Schuchardts Sammlung im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien aufbewahrt wird. Die Spindel mit dem Knöpfchen ist die Spindel mit der Inventarnummer ÖMV/63.423.

2 Zeichnung s. Scan

3 Zeichnung s. Scan

4 Zeichnung s. Scan

5 v. Rettich (1895).

6 Dieses Zitat entspricht zwar nicht ganz genau, aber weitgehend der Stelle in der großen Encyclopédie, Bd. VI, S. 784. Es handelt sich aber nicht um den Eintrag s.v. fuseau, sondern vielmehr um fil.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Universität Coimbra, Portugal (Lehrstuhl für Germanistik). (Sig. s.n.)