Karl Vossler an Hugo Schuchardt (39-12547)

von Karl Vossler

an Hugo Schuchardt

München

03. 02. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: Glückwünsche 80. Geburtstag Forschungsfelder Schuchardts Sprachphilosophie Steiner, Herbert (1922) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1920) Schuchardt, Hugo (1921) Schuchardt, Hugo (1921)

Zitiervorschlag: Karl Vossler an Hugo Schuchardt (39-12547). München, 03. 02. 1922. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2870, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2870.

Printedition: Schwägerl-Melchior, Verena (2015): Mein Verhältnis zur Sprachwissenschaft ist das des unglücklichen Liebhabers" - Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Karl Vossler. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 181-266.


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München, 3. Febr. 1922
Leopoldstr. 87II r.

Hochverehrter, lieber Freund und Meister,

Nun haben Sie das 80. Lebensjahr vollendet u. sind noch immer der jüngste von allen unseren Sprachforschern. Wenn Sie tot wären, würde ich sagen: der modernste. Mit jung meine ich nichts anderes als die geistige Lebensfrische, ein Gnadengeschenk, das die Götter nur ihren größten Lieblingen schenken. Da muß man an Goethe u. Tizian denken. Der sprichwörtliche italienische Stoßseufzer: Se gioventù sapesse ... se vecchiaia potesse ... hat in Ihnen seinen Wunsch erfüllt. Daß es so etwas giebt im Bereiche des Menschlichen, ist auch denen eine Freude, denen es nicht zuteil wird. |2| Unser Chrysostomus hat mir in einem ausführlichen Brief erzählt, wie frisch er Sie bei seinem letzten Besuch gefunden hat. Nun hat er einen kleinen Festartikel1 für Sie geschrieben, den ich im Ms. gelesen habe, u. der mir außerordentlich gefallen hat, mir eine reine Freude war – fast mehr als für Sie: für ihn. Denn er hat dabei endlich einmal gezeigt was er kann, u. ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß der Steinersche Epheu sich doch noch zu einiger Höhe emporrankt an der Schuchardt-Eiche. Ich treibe ihn immer wieder mit freundlichem |3| Zuspruch zur Beschleunigung u. zum Abschluß seiner Arbeit. Ihnen aber wünsche ich, daß Sie diese Arbeit bald zu Gesichte bekommen, noch mehr freilich, daß Sie aus Ihrem Füllhorn uns noch Vieles schenken mögen. Ihre letzten Gaben: "Sprachursprung", "Possessivisch u. Passivisch"2 sind zukunftsschwanger u. drängen den Autor wie den Leser weiter u. immer weiter. So reich sich uns heute der Rückblick auf Ihre Lebensarbeit darstellen muß, der Vorblick, den Sie selber besser tun können als ich, weil Sie auf höherer linguistischer Warte stehen, ist noch viel weiter. Möge Ihnen vergönnt sein, noch viele von den |4| Aufgaben, die Sie da sich erheben sehen, in Angriff zu nehmen u. für die Nachkommenden die Richtung zu stecken. Die Gewißheit, daß der Forschungsweg, den Sie eingeschlagen u. gewiesen haben, in der Zukunft weiter verfolgt werden muß, weil er keine Sackgasse ist, sondern eine via maestra, diese Gewißheit ist, so viel ich mir denken kann, wohl der schönste Trost an Ihrem 80. Geburtstag. In dieser bescheidenen, selbsterrungenen Art von Unsterblichkeitsglaube können Sie am Abend Ihres Lebens sich jedes Mal sonnen, so oft Sie müde sind.

Ihr in aufrichtiger Verehrung ergebener
K.Vossler


1 Herbert Steiner verfasste zu Schuchardts 80. Geburtstag einen Artikel, der das einzige publizierte Versatzstück seiner nicht abgeschlossenen Dissertation zu Schuchardts Sprach­philosophie bleiben sollte (Steiner 1922).

2 Schuchardt (1919 [HSA 711], 1919 [HSA 712], 1920 [HSA 726], 1921 [HSA 741], 1921 [HSA 743]).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12547)