Karl Vossler an Hugo Schuchardt (36-12545)
von Karl Vossler
an Hugo Schuchardt
16. 06. 1921
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Rezeption Reisen Biographisches Latein
Malaiisch Schweiz Italien Schuchardt, Hugo (1921) Vossler, Karl (1919)
Zitiervorschlag: Karl Vossler an Hugo Schuchardt (36-12545). München, 16. 06. 1921. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2867, abgerufen am 31. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2867.
Printedition: Schwägerl-Melchior, Verena (2015): Mein Verhältnis zur Sprachwissenschaft ist das des unglücklichen Liebhabers" - Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Karl Vossler. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 181-266.
M. 16. VI. 21
Hochverehrter Freund,
Erst heute komme ich dazu Ihren sehr gehaltreichen Exkurs zu Sprachursprg III zu lesen. Vielen Dank für das mit liebenswürdigem Widerspruch gepaarte Kompliment. S. 196, Anm. 2.1 Obgleich ich weder kymrisch noch malaiisch, weder passiv noch aktiv kann, so habe ich doch wieder allerhand gelernt. Vor allem ist mir durch Ihre Darleg[un]gen Ihr sog. histor. Infinitiv etwas verständlicher geworden, indem mir scheinen will, daß man in Wend[un]gen wie: Et grenouilles de sauter2 eine Anschauung hat, in der das Springen der Frösche u. die Frösche des Springens dh. die vom Springen erfaßten oder befallenen Frösche ineinander überfließen. |2| Ich war beinahe zwei Monate weg: Schweiz u. Italien, wo man mich überall sehr gut behandelt hat, in der Hauptsache doch wohl, weil ich Deutscher, nicht obgleich ich Deutscher bin; jedenfalls habe ich mich nur in jenem ersten Sinn darüber gefreut.
Mit herzl. Dank u. Gruß
Ihr erg.
K. Vossler
1 Schuchardt (1921 [HSA 741]: 196): "Sofort wird uns, als glänzender Vertreter tätiger wie aufnehmender Sprachherrschaft, K.Vossler gegenwärtig. Er selbst berührt diese Sache im Eingang zu seiner Abhandlung 'Der Einzelne und die Sprache' (Logos 8 [1919], 266); aber hier steht seine Auffassung einigermaßen im Widerspruch zu derjenigen, die ich seit Jahrzehnten hege und vertrete. Er sagt, wer eine Sprache nicht auch ausübe, der könne sie nicht; nun, dann können die meisten von uns kein Latein. Doch die Bezeichnung ist ja gleichgültig; auf die Sache kommt es an, und da besteht zwischen den beiden Arten des Könnens in mehrfacher Hinsicht eine starke Verschiedenheit. Auch bei der Muttersprache ist sie vorhanden; immerhin lasse ich hier den hübschen Vergleich gelten mit den beiden beim Gehen wechselnden Beinen. Sobald aber fremde Sprachen ins Spiel kommen, ist der eine Fuß jedenfalls ein Stelzfuß. Besondere Umstände erzeugen Ausnahmen, und zu diesen rechne ich Vossler, der sich darum so wunderbar in fremde Dichtersprache einzuführen [sic] weiß. Unser innigstes Gefühlsleben vermag sich nur in unserer Muttersprache zu offenbaren, und nur sie werden wir mit schöpferischer Freiheit beherrschen".
2 Das bekannte Beispiel für die syntaktische Konstruktion stammt aus La Fontaines Fabel Le Lièvre et les Grenouilles: "Grenouilles aussitôt de sauter dans les ondes; Grenouilles de rentrer en leurs grottes profondes" http://www.lafontaine.net/lesFables/affiche Fable.php?id=37.