Hugo Schuchardt an Karl Vossler (35-HS_KV_s.n.)
von Hugo Schuchardt
an Karl Vossler
05. 11. 1920
Deutsch
Schlagwörter: Publikationsversand Dankschreiben Wissenschaftliche Gesellschaften Südtirolfrage Innsbrucker Abendblatt Publikationswesen Politik- und Zeitgeschichte Erster Weltkrieg Schuchardt, Hugo (1920)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Karl Vossler (35-HS_KV_s.n.). Graz, 05. 11. 1920. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2866, abgerufen am 31. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2866.
G. 5.11.'20
Lieber Freund,
Vielen Dank für Ihr schönes Neueste1 (der Soc. di c. naz.2 wünsche ich gutes Gedeihen). Sie wissen doch alten Dingen eine neue und zugleich große Seite abzugewinnen!
Wegen des Mitfolgenden bitte ich um stilles Beileid; ich konnte nicht umhin es Ihnen zu senden, damit Sie – vielleicht auf anderem Wege es in die Hände bekommend – mich nicht für altersschwächer halten als ich bin. Den Titel habe nicht ich gewählt, ein Schlußwort überhaupt nicht geschrieben und gewünscht.3 Den Schluß des Briefes hatte ich richtig übersetzt, was hat man daraus gemacht? Er lautet: "Come? |2| Tanta intolleranza di noi, e noi, non poche migliaia, ma milioni, dovremmo per secoli subire il giogo straniero?"4
Mich hatte die Widmung: all'amico dell'Italia anche nella guerra5 geradezu aufgebracht; ich hätte wohl bedenken sollen, daß sie als Liebenswürdigkeit, ja als Schmeichelei gemeint war. Aber ich sagte mir, würde sie ein Italiener nicht geradezu als Vorwurf der Verräterei aufgefaßt haben? Und dürfen Sie unser Volksgefühl niedriger einschätzen als ihr eigenes? Ich berühre diese Sache noch einmal, weil mich oft der Gedanke beunruhigt, man – das heißt die die sich meiner entsinnen – könnte nach meinem Tod drüber sagen: Sch. hat allerdings zeitlebens Italien geliebt, aber gegen Ende ist er umgefallen, ist als Italienfeind gestorben - nein! ich liebe auch heute noch alles was schön und gut an Italien ist: nicht ich bin untreu geworden, vielmehr – so komisch es klingen mag – Italien ist mir untreu geworden.
Patti chiari, amici cari, das ist im Laufe der Jahre mein Leibspruch geworden.
Mit herzlichem Gruß
Ihr
HSchuchardt
1 Es konnte nicht geklärt werden, für welche Zusendung (Brief und/oder Publikation) sich Schuchardt hier bedankt, da zwischen Lfd. Nr. 34-HS_KV_s.n. und 35-HS_KV_s.n. ein Korrespondenzstück zu fehlen scheint.
2 Das zwischen Lfd. Nr. 34-HS_KV_s.n. und 35-HS_KV_s.n. augenscheinlich fehlende Korrespondenzstück stand aller Wahrscheinlichkeit nach in Verbindung mit den Feierlichkeiten und Publikationen zur 600. Wiederkehr des Todestages Dante Alighieris am 14. September 1921 steht. Zur Gründung einer sich unter Umständen hinter der genannten Abkürzung verbergenden Società di commemorazione nazionale konnte bisher nichts in Erfahrung gebracht werden.
3 Es handelt sich um eine unautorisiert veränderte und unter dem Titel Römischer Chauvinismus erschienene Publikation im Innsbrucker Abendblatt (Schuchardt 1920, HSA 737). In den Papieren der Bayerischen Staatsbibliothek liegt Schuchardts Briefen an Vossler eine Kopie der Publikation bei. Das Schlusswort lautet im Innsbrucker Abendblatt folgendermaßen: "Diese unversöhnliche Gesinnung ist nur zu geeignet, die jetzt unter italienischer Herrschaft lebenden Deutschen wachzurütteln und sie nie vergessen zu lassen, daß sie, wie ihre Heimat, zu uns gehören, mit jeder Faser des sich über derlei Anmaßungen empörenden Herzens. Das mögen sich die wirklichkeitsfremden Anhänger des römischen Größenwahns gesagt sein lassen" (Schuchardt 1920, HSA 737). In Schuchardt (1920, HSA 737) wird eine (offensichtlich von der Zeitung vor Druck noch revanchistisch manipulierte) Übersetzung des Briefes eines italienischen Kollegen an Schuchardt abgedruckt. Es konnte bisher nicht geklärt werden, um welchen Kollegen und Brief es sich handelt.
4 Im Innsbrucker Abendblatt liest man folgendes: "Wie? So viel Unduldsamkeit und Chauvinismus, und die von uns mit Gewalt getrennten Tausende deutschen Brüder sollten sich für Jahrhunderte unter ein solches fremdes Joch beugen?" (Schuchardt 1920, HSA 737).
5 Übersetzt als "Dem Freunde Italiens auch während des Krieges" (Schuchardt 1920, HSA 737).
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