Hugo Schuchardt an Karl Vossler (34-HS_KV_s.n.)
von Hugo Schuchardt
an Karl Vossler
1920
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Rezension Accademia dei Lincei (Rom) Latein
Hebräisch Spitzer, Leo D´Ovidio, Francesco Vossler, Karl (1920) Busch, Eberhard (2003) Schuchardt, Hugo (1890)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Karl Vossler (34-HS_KV_s.n.). Graz, 1920. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2865, abgerufen am 28. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2865.
Lieber Freund!1
In kurzen Zwischenräumen beschenken Sie die Sprache mit größeren oder kleineren Kunstwerken. Ich danke Ihnen vielmals für das zuletzt geschickte in dem Sie auch unsere Sprachnöte und den geselligen Lärm in höhere Sphären heben.2L. Spitzer wird sich, wie ich ihn kenne, die Gelegenheit nicht entgehen lassen sich auch seinerseits zu entfalten. Zu 101,2) so kam Pilatus ins Credo.3 Eine kleine Schulmeisterlichkeit, die aber auf dem Drang beruht, mich selbst aufzuklären. Mēmrā war mir bisher nicht vorgekommen, das doch nach Ihrer Art der Erwähnung, gang und gäbe sein müßte. "Hebräisch" ist es nicht. Im A.T. kommt vereinzelt (im Buch Esther) maamãr vor im Sinne von Wort, Befehl (nicht Gottes), aramäisch ist, in gleicher Bed. (auch in Esth.) mēiner, mit dem nachgesetzten Artikel mēmrā. Es muß wohl als "Wort Gottes" von irgendwelchen späteren Gelehrten gebraucht worden sein. Ich habe einmal eine Anzeige von einem sehr mittelmäßigen Buch über Sprache und Religion geschrieben.4
|2|Noch habe ich Ihnen zu danken für Ihre Auskunft bezüglich der A.[ccademia] d.[ei] L.[incei]. Freund d'Ovidio hüllt sich in tiefes mir bedeutungsvolles Schweigen; anche se non fossi Linceo, sarei abbastanza linceo per …5
Herzl. Gruß
Ihr
HSch.
1 Auch hier ist das Datum nicht erkennbar, die Einordnung nach dem 16.Juli 1920 erfolgt in Abhängigkeit vom vorangegangenen Schreiben Vosslers (Lfd. Nr. 33-12544).
2 Vossler (1920: 111-112): "Zweifellos haftet der Sprache etwas Unzulängliches an. Sind doch alle Worte im Grunde nur schlechter Ersatz für Taten oder für Erkenntnisse. Der Mensch wäre wohl nie auf den Einfall gekommen, zu sprechen, wenn er allwissend und allmächtig wäre. Man kann wohl sagen, daß es das Gefühl unserer Hilflosigkeit war, unsere äußere und innere Not, was uns die Zunge gelöst hat. – Aber hat denn die Sprache unseren Nöten abgeholfen? Ich meine, unter den Sprechenden besteht die Unzulänglichkeit gerade so wie unter den Stummen. Und doch nicht gerade so; denn sie hat nun einen Ausdruck durch die Sprache gefunden. Insofern also ist Motiv und Inhalt alles Sprechens nichts anderes als die Unzulänglichkeit des Menschen, und seine sämtlichen Sprachen tragen dieses Stigma. An sich selbst gemessen aber, d.h. als Ausdruck der menschlichen Unzulänglichkeit gewertet, sind unsere Sprachen durchaus verläßlich und zulänglich. Sie drücken ja aus, was sie sollen: unsere Nöte und Bedürfnisse – und drücken sie sogar doppelt aus: unmittelbar und mittelbar. Unmittelbar hat unser Sprechen alle die Angelegenheiten und Bedürfnisse zum Gegenstand, die uns gerade beschäftigen, und in diesem Sinn ist die Sprache ein zweckmäßiger 'geselliger Lärm', den wir machen und über dem wir die ewige Unzulänglichkeit des menschlichen Wesens völlig vergessen können".
3 Vossler (1920: 100-101): "Erst durch die Übertragung des religiösen Gefühlstones auf weltliche, staatliche, rechtliche, künstlerische Gegenstände kann der feierliche Redestil sich auf profane Lebensgebiete ausdehnen. So ist es gekommen, daß das feierliche Latein als das vorwiegend religiöse sich zur allgemeinen Schriftsprache entfalten und dann wieder zur Kirchensprache verkapseln konnte." Schuchardt spielt hier auf den unklaren Hintergrund der Nennung des Pontius Pilatus im christlichen Glaubensbekenntnis an. Verschiedene Deutungsansätze für die Interpretation des Passus im Credo finden sich z.B. in Busch (2003: 197-200).
4 Es handelt sich um die 1890 erschienene Anzeige Schuchardts von G. Runze, Sprache und Religion ( Schuchardt 1890, HSA 239).
5 Wortspiel, das auf Schuchardts Eigenschaft als Mitglied der Accademia dei Lincei, und somit seiner Charakterisierung als Linceo und der Ausgangsbedeutung des Adjektivs linceo 'luchsartig, schlau' beruht.
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