Karl Vossler an Hugo Schuchardt (31-12543)

von Karl Vossler

an Hugo Schuchardt

München

18. 06. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Politik- und Zeitgeschichte Wissenschaftstheoretische Reflexion Sprachursprung Nationalismus Universitätsangelegenheiten Universität München Bovet, Ernest Croce, Benedetto Spitzer, Leo Meyer-Lübke, Wilhelm Lerch, Eugen Schuchardt, Hugo (1920)

Zitiervorschlag: Karl Vossler an Hugo Schuchardt (31-12543). München, 18. 06. 1920. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2862, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2862.

Printedition: Schwägerl-Melchior, Verena (2015): Mein Verhältnis zur Sprachwissenschaft ist das des unglücklichen Liebhabers" - Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Karl Vossler. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 181-266.


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M. 18. Juni 20
Leopoldstr. 87 II

Hochverehrter u. lieber Freund,

Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief u. Ihren inhaltschweren Sprachursprung III.1 ‑ Was zunächst die natürliche u. grundsätzliche Zusammengehörigkeit von Sprechen u. Hören, Schreiben u. Lesen betrifft, so lassen Sie mich Ihnen mit einem argumentum ad hominem ins Haus fallen. Ein Junggesellen-Leben: so reich an Erfolgen u. Leistungen u. deshalb wohl auch an Glück u. Menschen-Liebe wie das Ihrige, in allen Ehren: es kann doch den Begriff der natürlichen u. grundsätzlichen Zusammengehörigkeit von Weib u. Mann nicht aus der Welt schaffen. Dessen bin ich so gewiß, daß ich Ihnen gerne zugebe, daß die richtigen Junggesellen, genau wie die richtigen Hörer, Versteher, Leser geboren werden u. ihre besondere Anlage haben, ja sogar, daß niemand vielleicht in gleicher Stärke die Gabe |2| des Sprechens mit der des Verstehens in sich vereinigt, so sehr die Pflege der einen zugleich eine Förderung der andern sein mag. ‑ Glauben Sie, daß Bovet ein sachkundiger Beurteiler der europäischen Bewegungen ist? Ich halte ihn für geistvoll u. gewandt, aber ziemlich oberflächlich. Wie mir scheint, liegen die Dinge so, daß Italiener u. Franzosen in den letzten 25 Jahren sich die großen Gedanken unseres perikleischen Zeitalters, das etwa von Herder bis Hegel reicht, assimiliert haben, u. ich möchte Bergson einen Schelling, Croce einen Hegel redivivus nennen. Indessen haben bei uns die stärksten Geister sich in die naturwissenschaftlichen, technischen u. überhaupt spezialistischen Probleme ergossen, was natürlich eine gewisse Entleerung des universalistischen u. philosophischen Gedankens mit sich brachte; denn in die labyrinthischen Bergwerke der Spezialwissenschaften kann man nicht mit der |3| ganzen Sonne der Erkenntnis hinableuchten, sondern muß sich eine kleine Blendlaterne um den Hals hängen. Mit dieser ehrlichen Maulwurfsarbeit, die da von den Deutschen geleistet worden ist, kann man freilich in Damensalons u. Journalen für alle Welt keinen Staat machen; daher denn auch Bovet nichts davon wissen will. ‑

Nun aber Einiges zu Ihrem sehr schönen "Sprachursprung III", aus dem ich wieder Vieles gelernt habe. Aber zwei bis drei Bedenken kann ich nicht los werden. Wie alle Ursprungsfragen, so halte ich auch den Übergang vom homo alalus zum sapiens für viel schwieriger als das Studium des homo sapientissimus, u. glaube, daß man die Struktur eines Keimes, eines Ei's, einer Ursprache noch immer am besten aus dem Studium des völlig entfalteten u. spätesten entsprechenden Gebildes versteht.

Warum erkennen wir das Prädikat als das syntaktische Urgebilde? Doch wohl nur darum, weil es uns in jedem völlig ausgebildeten Satzbau als das Wesentliche erscheint u. wir den Schluß machen, daß |4| das Wesentliche auch das Ursprüngliche sein müsse. Mit andern Worten: die Ursprungsfrage ist eine Prinzipienfrage, also kein geschichtliches Problem mehr, sondern ein philosophisches. Drum kann ich auch nicht glauben, daß sich jemals wird nachweisen lassen, daß die Stellung Subj. Prädikat älter ist als später eingetretene Umordnungen. "Früher" u. "später" bezeichnen hier kein chronologisches Verhältnis mehr, sondern ein logisches, u. die Umordnungen können schon in den ältesten Zeiten Tatsache geworden sein, ohne daß Ihr Ur-Schema S.[ubjekt] P.[rädikat] dadurch berührt würde; denn dieses Schema ist etwas rein Normatives.

Ähnlich verhält es sich wohl mit der Eingliedrigkeit des Ur-Satzes. Da es heute noch u. wohl in alle Zukunft Sätze giebt, die syntaktisch eingliedrig sind u. da "Eins" "ursprünglicher" ist als zwei ‑ aber ist es das wirklich? ‑ so setzt man die Eingliedrigkeit als das zeitlich älteste an. Mir scheint jedoch, daß diese Eingliedrigkeit eine Hilfskonstruktion des Syntaktikers ist; denn jedes Sprachgebilde muß insofern als zweigliedrig |5| aufgefaßt werden, als es ein Formelement mit einem Bedeutungselement zu einem Symbole vereinigt u. jedes Symbol eine mindestens zweigliedrige Einheit ist. Ich glaube zwar, durchaus im Einverständnis mit Ihnen, daß die sprachliche Zweiheit nicht auf Zerlegung, sondern auf Zusammenfügung beruht. Nicht auf Zerlegung, wohl aber auf Unterscheidung. Jede sprachliche Einheit birgt einen unterscheidenden Gedanken in sich, u. der primitivste sprachliche Ausdruck hebt irgend etwas als das Eine hervor im Unterschied vom Andern und damit in Beziehung zum Andern, also den Laut in Beziehung zur bezeichneten Sache, wobei immer schon das logische Gefühl (ich will nicht sagen Bewußtsein) lebendig ist, daß Laut und Sache zwar zusammengehören, aber nicht identisch sind, sondern eben diese Einheit bilden, die eine Ander[s]heit voraussetzt u. einschließt. ‑ Nun habe |6| ich Sie aber genug mit meinen Sophistereien gequält.

Rechts u. links ist mir erst beim Militär zu einem natürlichen Gefühl geworden, doch habe ich es, wie ich mich wohl erinnere, auch da noch, zwar nicht mehr beim Bewegen meines Körpers, wohl aber beim Karten-Lesen manchmal durcheinandergebracht.

Nun ist also Croce Unterrichtsminister u. ich hoffe, daß er zur Erleichterung und Besserung unserer wissenschaftlichen Beziehungen das Möglichste tut. Er schrieb mir vor einigen Monaten einmal, man müsse eine Gemeinschaft aller Gelehrten mit Ausschluß der Chauvinistischen aller Nationen gründen, u. chauvinistisch veranlagt seien eigentlich nur |7| die Franzosen u. die Deutschen, während die Engländer zum Chauvinismus zu stolz u. die Italiener zu ‑ bescheiden seien. Ich antwortete ihm damals, daß man nach diesem Rezept Gefahr laufe, die besten wissenschaftlichen Köpfe auszustoßen u. daß ich selbst unter den Chauvinisten beträchtliche Denker u. Forscher kenne.

Dies führt mich auf den chauvinistischen Anti-Chauvin Spitzer, dessen Leistungen auch ich sehr hoch schätze. Ich habe mich schon mehrmals für ihn verwendet, sogar Meyer-Lübke gegenüber u. werde mich bei jeder Gelegenheit für ihn einsetzen. Sollte Lerch wegberufen werden, so ziehe ich ihn sofort als Extra-Ordinarius nach München; denn nicht nur daß ich |8| seine Leistungen hoch schätze, ich habe ihn auch menschlich sehr gerne.

Mit nochmaligem herzlichen Dank

Ihr in aufrichtiger Verehrung ergebener

K.Vossler


1 Schuchardt (1920, HSA 726).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12543)