Karl Vossler an Hugo Schuchardt (29-12542)

von Karl Vossler

an Hugo Schuchardt

München

29. 04. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Wissen und Leben: neue Schweizer Rundschau Publikationsversand Biographische Texte über Schuchardt Rezension Spitzer, Leo Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1920) Spitzer, Leo (1918) Dante, Alighieri (1918) Sperber, Hans/Spitzer, Leo (1918) Vossler, Karl (1919)

Zitiervorschlag: Karl Vossler an Hugo Schuchardt (29-12542). München, 29. 04. 1920. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2860, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2860.

Printedition: Schwägerl-Melchior, Verena (2015): Mein Verhältnis zur Sprachwissenschaft ist das des unglücklichen Liebhabers" - Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Karl Vossler. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 181-266.


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M. 29. IV. 20

Hochverehrter Freund,

Gestern erhielt ich endlich das Dez. Heft von "Wissen u. Leben", etwa gleichzeitig mit Ihrem "Morgenstern".1 Beide Arbeiten, der Morgenstern wie Ihr Abendstern, strahlen ein klares u. mildes Licht u. haben mich ungemein angesprochen. Purgatorio-Stimmung, u. von Ihrem Abendstern besonders kann man sagen:

Lo bel pianeta che ad amar conforta.2

Es ist natürlich, daß ein so ehrliches Bekenntnis wie das Ihre den Leser zur Selbstbeschauung anregt u. daß man, indem man Sie liest, sich selber besser kennen lernt. So ist z.B. mir durch Ihre Jugendliebe zum Mittelalter |2| erst bewußt geworden, wie wenig ich dergleichen empfunden habe, wie sehr ich als Knabe u. Jüngling in klassische, renaissancemäßige u. philosophische Neigungen eingesponnen war.

Was Sie, teils widersprechend, teils ergänzend, zu Spitzer vorbringen, hat mir so ziemlich Alles eingeleuchtet. Ich stehe dieser Sperber-Spitzerschen Motiv- u. Wortforschung3 etwas mißtrauisch gegenüber, u. die ganze Methode scheint mir etwas Zwitterhaftes zu haben. So sehr ich die gegenseitige Befruchtung von Sprach- und Literaturwissenschaft anstrebe, so nötig scheint es mir, die beiden genau von einander zu unterscheiden, |3| denn nur auf Grund der Verschiedenheit der Geschlechter kann Zeugung stattfinden. In den nächsten Tagen schicke ich Ihnen eine kleine Studie, in der ich diesen Gedanken nachgegangen bin.4

Heute aber habe ich nur zu danken, herzlich zu danken u. Glück zu wünschen.

Ihr in aufrichtiger Verehrung ergebener
Karl Vossler.


1 Die betreffende Publikation in "Wissen und Leben", in der Schuchardt in einer Lebensrückschau viele autobiographische Elemente zusammenführt, erschien unter dem Titel Bekenntnisse und Erkenntnisse (Schuchardt 1919, HSA 722), mit "Morgenstern" referiert Vossler hier auf Schuchardts 1920 erschienene Arbeit (Schuchardt 1920, HSA 736) zu Spitzers Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns (Spitzer 1918).

2 Dante Alighieri, Divina Commedia, Purgatorio, Erster Gesang, Vers 19. Dante umschreibt hier die als Morgen- bzw. Abendstern bekannte Venus, die von Vossler als "Abendstern" zur Bezeichnung für den Lebensrückblick in Schuchardt (1919, HSA 722) herangezogen wird.

3 Hans Sperber und Leo Spitzer veröffentlichten 1918 gemeinsam einen Band unter dem Titel Motiv und Wort: Studien zur Literatur- und Sprachpsychologie (Sperber/Spitzer 1918). Der zweite, von Spitzer verfasste Teil ("Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns") wird von Schuchardt 1920 [HSA 736] kritisch beleuchtet.

4 Gemeint ist wahrscheinlich Vossler (1919b). Der Einzelne und die Sprache. Logos, 8, 266-302.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12542)