Hugo Schuchardt an Karl Vossler (19-HS_KV_s.n.)
von Hugo Schuchardt
an Karl Vossler
07. 11. 1919
Deutsch
Schlagwörter: Universität München Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Erster Weltkrieg Diezstiftung Sprachwissenschaft (Methoden) Accademia dei Lincei (Rom) Reflexion über Korrespondenzsprache Südtirolfrage Wissen und Leben: neue Schweizer Rundschau Sonderabdruck Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte Publikationswesen Slawische Philologie Irredentismus Faust Slowenisch
Dänisch
Deutsch
Romanische Sprachen Flechia, Giovanni Gnoli, Domenico Tobler, Adolf Farinelli, Arturo Lollis, Cesare de D´Ovidio, Francesco Rajna, Pio Nyrop, Kristoffer der Vogelweide, Walther von Alighieri, Dante Jud, Jakob Bovet, Ernest Goldschmiedt, Angelica Italien Piemont Rom Pohl, Heinz Dieter (1997) Krehl, Birgit (1987) Engel, Michael (1987) Terracini, Benvenuto (1932) Lichem, Klaus (1994) Schuchardt, Hugo (1874) Storost, Jürgen (1989) Storost, Jürgen (1992) Schuchardt, Hugo (1877) Schuchardt, Hugo (1877) Høybye, Poul/Sandfeld, Kr. ([o. J.]) Schuchardt, Hugo (1909) Schuchardt, Hugo (1915) Dante, Alighieri (1918) Elwert, W. Theodor (1974) Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1992) Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1972) Schuchardt, Hugo (1919) Rizek, Martin (2002) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1920)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Karl Vossler (19-HS_KV_s.n.). Graz, 07. 11. 1919. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2846, abgerufen am 23. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2846.
G. 7. 11. '19
Lieber Kollege und Freund,
Daß Sie in München und Berlin nicht gleichzeitig wirken können! In Ihnen steckt ja Kraft und Stoff für mehr als zwei Katheder. Leider ist Zellteilung in unsern Kreisen noch nicht eingeführt. Nun ich getröste mich mit der größeren Nähe Münchens, indem ich Sie idealisiere, nachdem das was mich einst der von München zurückkehrende Murko1 hoffen ließ, nicht mehr zu realisieren war (wobei ich für den Besuch Ihres Apostels, eines "lieben Kerls" wie der Wiener sagt, bestens danke – eingeschüchtert habe ich ihn gewiß nicht, aber vielleicht enttäuscht). Sie erkundigen sich nach dem Befinden eines 78 jährigen? erlaubt das Knigge? Nun |2| Frau Goldschmied2 wird Ihnen darüber das Nötige gesagt haben; bitte nur, 96 Prozent davon abzuziehen (Nachahmung eines Wiener Börsenwitzes: Nun, das Schlimmste haben wir überstanden. – So? meinen Sie, daß es jetzt besser werden wird? – Das habe ich nicht gesagt; aber 96 Prozent haben wir doch hinter uns, und es bleiben nur noch 4). Es ist eine alte Loewische Familientradition, daß es mir ausgezeichnet gehe; Frau G.[oldschmiedt] gibt freilich zu daß ich ihren Schwiegersohn3 mit Recht als "Optimisten für andere" bezeichne. Ich will aber jetzt meine greisenhafte Geschwätzigkeit auf etwas lenken, was uns beiden sehr am Herzen liegt – Italien! Ich begreife Sie, den mit dem Lande nicht nur geistig in inniger Beziehung Stehenden, sondern auch Verschwägerten, in Ihren Gefühlen vollständig und teile diese nur mit einer kleinen Verwunderung: die Italiener mußten ja, nach allem, Ihnen als Erste, die Hand entgegenstrecken, Ihnen, |3| dem sie so viel verdanken. Bei mir liegen die Dinge anders. Italien ist meine Jugendliebe. Kürzlich blätterte ich in Briefen an meine Eltern; ich schrieb ihnen 1873 aus Piemont (ich war da zum Besuch bei Flechia4 in Piverone, und dann bei einem Freunde in Dogliani,5 wo man mir, allerdings als "prussiano", nicht als "tedesco" ein Ständchen bringen wollte): ich würde mich lächerlich machen, wenn ich meine Glückseligkeit über die Freundschaft zwischen Italien und Deutschland – sie schien mir damals unzerreißbar – schildern wollte, wo Italien ins Spiel käme, ginge bei mir der Kopf mit dem Herzen durch. In jenen Jahren (damals wechselte ich auch mit dem mir seit lange bekannten D. Gnoli6 einige Briefe über mein Rit. u. Terz.)7 war ich geradezu Fanatiker; ich träumte von einer romanisch-germanischen Verbrüderung, deren Sinnbild eine Diez-stiftung nicht zu Berlin, sondern zu Rom sein sollte. Darüber krachte ich mit dem biedern und korrekten Tobler8 zusammen. Und nun? Mit jenen von Ihnen genannten Männern ( Farinelli, de Lollis u.a.) würde gewiß |4| auch ich mich bestens verständigen; aber ich habe gar keinen Anlaß ihnen als erster die Hand entgegenzustrecken. Wissenschaftliche Interessen kommen nicht in Betracht; ich bin nicht Literaturbeflissener, sondern Sprachforscher und als solchen kümmert es mich gar nicht mehr ob in irgend einer frisch ausgegrabenen ital. Md. [Mundart] ę statt eines zu erwartenden ẹ gesagt wird, und dergleichen. Die phonetischen Halme wachsen uns über die Köpfe, und überdies verhalten sich meine Augen gegen die Punkte, Häkchen, Strichlein über und unter den Buchstaben immer widerspenstiger (Linsentrübung). An dem Austausch weit tragender Gedanken würde mir liegen; aber gerade da haperts. Ich glaube daß der Imperialismus unter den italienischen Intellektuellen die Oberhand hat. Mein Spezi d'Ovidio ist nicht umsonst "cugino del rè".
[Welch merkwürdiger Zufall! in diesem Augenblick bringt mir die Post seit vielen Jahren einen Brief von d'Ovidio, der sich aber – die anni terribili werden nur erwähnt – bloß mit Persönlichem befaßt.9 Er hatte gehört daß ich |5| das Zeitliche gesegnet habe, es war, wie es scheint, in der Eröffnungssitzung der Lincei davon die Rede gewesen, er hatte inzwischen davon erfahren daß die Nachricht verfrüht war und bittet mich nun um weitere Mitteilungen].10
Einen andern Freund, Pio Rajna, halte ich für einen argen Chauvinisten, vielleicht mit Unrecht. Er hatte bei Ausbruch des Kriegs an Nyrop11 geschrieben, er hoffe, lo Sch.[uchardt] würde noch il cuor d'una volta haben:12 ich ließ ihm sagen: ja, aber gerade deshalb ... Zu alledem kommt noch daß ich seit Jahren nur deutsche Briefe schreibe; Lesen tue ich Briefe in allen europäischen Kultursprachen. Nyrops z.B. schreiben mir dänisch, ich antworte ihnen deutsch. Lingua franca rede ich zwar in allen Färbungen, aber als Briefsprache ist sie mir verhaßt. 13 Meine Stellung zu Italien ist nun völlig klar; es herrscht in mir kein Zwiespalt, kein Schwanken, sonst würde ich Sie zu meinem Seelenberater erwählen. Beim Ende dieses Krieges standen die Tore zwischen Deutschland und Italien weit offen; nichts, aber wirklich gar nichts gab es, dass ihrer gegenseitigen |6| Befreundung hinderlich gewesen wäre. Die Annexion von Deutschsüdtyrol war ein Verbrechen und eine Dummheit; die Argumente der natürlichen Grenzen (hier ist es das Gebirge, im Westen der Fluß), der militärischen Sicherung u.ä. sind für Kinder. Eine Irredenta zu erlösen um eine Irredenta zu schaffen, sich wie Rajna tat, über den Zerfall des "anachronistischen" Österreichs freuen, und den Anachronismus des Alto Adige begrüßen!14 Was mich persönlich anwidert, ist die schmeichlerische Liebenswürdigkeit der Besitzergreifer. Sie hoffen auf die sänftigende Wirkung der Zeit; nein, nicht die Peitsche, sondern Zucker oder vielmehr Morphium. Sie können lachen, als Kunstvolk berauben Sie Wien seiner schönsten Kunstschätze, und essen bei uns billiger als zuhause und billiger als die Einheimischen. Daran ist unsere Valuta schuld, aber die künstliche Entwertung dieser hat die Entente auf dem Gewissen. Doch ich will nicht Zeitung reden, sondern aus mir heraus. Ich habe immer ein beson|7|deres Gerechtigkeitsgefühl besessen; und der Sprachforscher hat sich natürlich vor allem um die Sprachgerechtigkeit gekümmert. Nichts ist mir niederträchtiger erschienen als die Vergewaltigung des Volkstumes vermittels der Sprache. Die Drangsalierung der Dänen in Nordschleswig, der Polen in Posen habe ich immer als Schmach für Preußen empfunden. Aber die Italiener haben auch nicht mehr Gerechtigkeitssinn, und Kunst allein macht die Kultur nicht aus; die Gerechtigkeit, die Verwirklichung der Wahrheit steht höher als alles andere. Giustizia mosse ...?15 könnte der Bozener Walter von der Vogelweide den Trienter Dante mit ironischem Lächeln fragen. Wenn die Italiener gerecht und vernünftig geworden sein werden, dann werde ich einen Jubelhymnus anstimmen und sollte ich schon gestorben sein, dann werde ich aus meinem Grabe eigens zu diesem Zweck auferstehen. Manches von dem was ich Ihnen hier schreibe, habe ich kürzlich an J.Jud16 geschrieben, veranlaßt durch dessen Anfrage wegen meiner Be|8|ziehungen zu Tobler. Ich wiederhole davon noch eines; ich schrieb daß ich in meinem langen Leben nur einen einzigen guten Gedanken gehabt hätte und der sei eine Dummheit gewesen (die Verbrüderung von Romanen und Germanen). Das ist natürlich eine Übertreibung; aber wenn ich schon zum großen Teil einer gewesen bin "der froh ist, wenn er Regenwürmer findet",17 so habe ich doch immer mich dabei an dem rosigen Abendglanz ferner Gebirge erfreut und erfrischt. Daß ich in meinen letzten Lebenstagen diesen Zusammenbruch meiner eigensten, innigsten Ideale erleben mußte! Um nicht in allzu ungünstigem Lichte bei denen zu stehen die um mich wissen – der Mittelweg ist nicht immer der sicherste, meistens wird man da von allen Seiten falsch gewürdigt – habe ich Bruchstücke u.d.T. "Bekenntnisse und Erkenntnisse"18 im Frühjahr d.J. geschrieben; sie sind nach einer langen Odyssee in der Redaktion von "Wissen und Leben" des liebenswürdigen Bovet19 zur Ruhe eingelaufen, hoffentlich nicht zur dauernden und mir damit zuvorkommend. Sprachursprung I20 und II21 (zusammen ein Dutzend Seiten – ein Lehrjungenstück!) werde ich Ihnen schicken, sobald ich die SA [Sonderabdrucke] (SB. der Berl. Ak.) habe. Ein Aufsatz über Chr. Morgenstern ist seit Anfang August gedruckt (Euphorion),22 es scheint aber daß Setzerstreik oder Papiermangel sein Erscheinen verhindern.
Empfehlen Sie mich der Frau Hofrätin G.[oldschmiedt], unserem postillon d'amour; es ist eine liebe gescheite Frau, ich bedaure mich so wenig mit ihr unterhalten zu haben; es ist meine Schuld, aber meine leibliche.
Mit herzlichstem Gruß
Ihr ergebener
H.Schuchardt
1 Mathias Murko (1861-1952), österreichischer Slawist slowenischer Sprache, von 1902 bis 1917 Professor für slawische Philologie in Graz, von 1917 bis 1920 als Nachfolger Leskiens in Leipzig und von 1920 bis 1931 Lehrstuhlinhaber in Prag (vgl. Pohl 1997; Krehl 1997). Zwischen Schuchardt und Murko bestand ein Briefwechsel, dessen Edition in Vorbereitung ist.
2 Angelika Goldschmiedt (1866-1827) war die Gattin des Chemikers Guido Goldschmiedt (1850-1915), deren Tochter Guida Loewi, geb. Goldschmiedt (1889-1958) mit dem Pharmakologen und späteren Nobelpreisträger Otto Loewi (1873-1961) (vgl. Engel 1987) verheiratet war. Letztere lebten wie Schuchardt in der Johann-Fux-Gasse und standen mit diesem in freundschaftlichem Kontakt.
3 Gemeint ist Otto Loewi. Siehe Anm. 2.
4 Giovanni Flechia (1811-1892), Indologe und Linguist (vgl. Terracini 1932); eine Edition des im Schuchardtnachlass erhaltenen Brief Flechias aus dem Jahr 1868 und der beiden im Dipartimento di Filologia, Linguistica e Tradizione Classica dell'Università di Torino aufbewahrten Briefe Schuchardts an Flechia liegt mit Lichem (1994) vor. Der hier edierte Brief belegt ein Lichem zum damaligen Zeitpunkt nicht bekanntes persönliches Zusammentreffen zwischen Flechia und Schuchardt (vgl. Lichem 1994).
5 Schuchardt besuchte im Herbst 1873 den italienischen Gymnasiallehrer Placido Cerri (1843-1874) in dessen Heimatort Dogliani, wie aus dem Briefwechsel Schuchardt-Cerri (Bibl. Nr. 01586-01598) geschlossen werden kann.
6 Vosslers Schwiegervater Domenico Gnoli. Im Schuchardt-Nachlass sind vier bisher noch nicht publizierte Briefe Gnolis aus dem Jahre 1874 erhalten.
7 Es handelt sich um Schuchardts frühe Arbeit zu Ritornell und Terzine (Schuchardt 1874, HSA 041).
8 Adolf Tobler (1835-1910) lehrte seit 1867, zunächst als außerordentlicher Professor, ab 1871 als ordentlicher Professor an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin (vgl. Jakubec 2012). Der Konflikt zwischen Tobler und Schuchardt entbrannte um Struktur und Sitz ( Berlin vs. Rom) der Diezstiftung (vgl. Storost 1989; 1992, Schuchardt 1877 [HSA 090], 1877 [HSA 091]). Der Briefwechsel zwischen Tobler und Schuchardt wurde teils in Storost (1992) veröffentlicht.
9 Brief D'Ovidios an Schuchardt vom 07.11.1919 ( Nummer 08492). Zuvor war der Briefwechsel nahezu vier Jahre unterbrochen.
10 Eckige Klammern im Original.
11 Kristoffer Nyrop (1858-1931), dänischer Romanist (vgl. "Nyrop, Kristoffer", in: Dansk Biografisk Leksikon, online unter http://www.denstoredanske.dk/index.php?sideId=295181). Die umfangreiche, aufgrund Nyrops Erblindung teils für ihn durch seine auch selbst mit Schuchardt korrespondierende Frau geführte Korrespondenz mit Schuchardt wurde bisher noch nicht aufgearbeitet.
12 Der Brief, in dem Nyrop dieses Zitat Pio Rajnas anführt, konnte bisher nicht ausfindig gemacht werden.
13 Es ist interessant, dass sich Schuchardt des Begriffs der "lingua franca" bedient, obwohl er mit Sicherheit nicht die von ihm selbst in Schuchardt (1909, HSA 588) beschriebene "aus romanischem Wortstoff gebildete Vermittlungssprache die im Mittelalter zwischen Romanen und Arabern aufkam und längs der ganzen Süd- und Ostküste des Mittelmeers verbreitet gewesen zu sein scheint" ( Schuchardt 1909: 441) meint, sondern den Begriff metaphorisch – wohl mit Bezug auf die verschiedenen nicht muttersprachlich beherrschten romanischen Sprachen – gebraucht.
14 Schuchardts politische Position zum Irredentismus und zur Südtirolfrage geht klar schon 1915 aus seiner Schrift Aus dem Herzen eines Romanisten hervor (Schuchardt 1915 [HSA 675]: 9-10).
15 Anspielung auf den Dritten Gesang des Infernos aus Dantes Divina Commedia, in dem die Gerechtigkeit Gottes thematisiert wird: "Per me si va ne la città dolente / per me si va ne l'etterno dolore / per me si va tra la perduta gente. Giustizia mosse il mio alto fattore / fecemi la divinia podestate / la somma sapienza e 'l primo amore".
16 Jakob Jud (1882-1952), Schweizer Romanist (vgl. Elwert 1974). Einzelne Briefe Juds an Schuchardt sind publiziert in Storost (1992) sowie in Heinimann (1992), einzelne Briefe Schuchardts an Jud in Heinimann (1972).
17 Schuchardt zitiert hier einen Passus aus GoethesFaust, in dem der gelehrsame fortschrittsgläubige Famulus Wagner charakterisiert wird.
18 Schuchardt (1919, HSA 722).
19 Ernest Bovet (1870-1941) war ein Schweizer Romanist und Professor für romanische Literatur in Zürich sowie Gründer und von 1907 bis 1923 Direktor der Zeitschrift Wissen und Leben (vgl. Rizek 2002). Bovets Briefe an Schuchardt sind erhalten (Bibl. Nr. 01289-01300).
20 Es handelt sich um Schuchardt (1919, HSA 711).
21 Ebenfalls 1919 erschien der zweite Teil der Serie ( Schuchardt 1919, HSA 712).
22 Es handelt sich um Schuchardt (1920. HSA 736).
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