Hugo Schuchardt an Franz von Miklosich (09-138-41-06)

von Hugo Schuchardt

an Franz von Miklosich

Graz

17. 07. 1881

language Deutsch

Schlagwörter: Vergleichende Sprachwissenschaftlanguage Sanskritlanguage Spanisch Ungarn Borrow, George (Henry) (1841) Schuchardt, Hugo (1881) Miklosich, Franz (1874) Miklosich, Franz (1876) Wlislocki, Heinrich (1994) Wlislocki, Heinrich (1880) Wlislocki, Heinrich (1880) Wlislocki, Heinrich (1881)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Franz von Miklosich (09-138-41-06). Graz, 17. 07. 1881. Hrsg. von Bernhard Hurch und Luca Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2810, abgerufen am 10. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2810.


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Graz, 17. Juli 1881

Hochverehrter Herr Hofrath!

Da mir Meyer1 mitgetheilt hat, daß Sie sehr krank gewesen sind, so drücke ich Ihnen mein herzlichstes Bedauern darüber und meine innigste Freude über Ihre Genesung aus.

Für die Uebersendung des höchst interessanten rumänischen Heftes statte ich meinen besten Dank ab; ich habe natürlich erst flüchtig hineinschauen können.

Den Borrow von 1841 habe ich inzwischen erhalten; ein großer Theil der darin überlieferten coplas sind sicher spurious, d.h. nicht in echt zigeunerischem Geschmack, andere allerdings scheinen die urwüchsige Stimmung dieses Gaunervolkes treu wiederzugeben, sind aber ganz unpoetisch, noch andere kommen auch in reinerem Spanisch vor (denn hier erscheint ja das Caló nur als ein lexikalisch modifizirtes Spanisch) und scheinen mir fast erst den aficionados zu Liebe jitanisirt worden zu sein. |2| Ich war schon dahin gekommen, den Einfluß der Zigeuner auf die sogenannten cantes flamencos als einen rein äußerlichen und posterioren zu betrachten, bin aber in Betreff der seguidilla jitana, einer Copla von dieser Silbenzahl: 6, 6, 5 + 6, 6, die ich für echt spanisch zu halten mich neigte, doch wieder zweifelhaft geworden, da ich gerade diese Form unter den von Borrow mitgetheilten Proben fand. Einen Lichtstrahl würde ich erhalten, wenn ich wüßte, ob sonst irgendwo in Zigeunerliedern der eingeschaltete und ohne weitere Beziehung zum Übrigen stehende Anruf: "Mutter!" oder irgendwas Ähnliches vorkommt. Die Liebe zu der Mutter ist wohl bei dem Zigeuner sehr groß?2 Daß Sie bei der Zigeunerpoesie der Bukowina rumänischen und ruthenischen Einfluß annehmen, sehe ich.3 Gilt Entsprechendes für die Ungarns und Siebenbürgens? ich bin mit der magyarischen Poesie zu wenig vertraut, um das feststellen zu können; auch liegt mir nur wenig Material vor (besonders das von Wisƚocki nicht).4

|3| Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Hofrath, dies nur als Mittheilung zu betrachten (trotz der Fragezeichen), damit Sie mich, wenn ich über diesen Punkt irgend etwas Dümmeres sagen sollte, eher entschuldigen möchten.

Der Reconvalescent schone seine Kräfte und greife nicht meinetwegen zur Feder.

Mit ausgezeichneter Hochachtung

Ihr treu ergebener

H. Schuchardt


1 Gustav Meyer (1850-1900), Indogermanist (v. a. Albanologe und Gräzist) war Professor für Sanskrit und Vergleichende Sprachwissenschaft in Graz, somit einer von Schuchardts unmittelbaren Kollegen (es existieren 24 Briefe Meyers an Schuchardt, 07160-07183, davon nur drei aus Graz; kein Schreiben stammt jedoch aus dem Jahre 1881).

2 Zu den "Mutter-Anrufen" in den cantes flamencos vgl. Schuchardt (1881: 291-293). In diesem Aufsatz gibt es daneben auch zahlreiche Verweise auf Miklosich und auf seine Studien über das Zigeunerische.

3 Miklosich hatte zwei Bände seines Werks Über die Mundarten und die Wanderungen der Zigeuner Europa's (Miklosich 1872-1881) der Herausgabe von Märchen und Lieder der Zigeuner der Bukowina gewidmet (Miklosich 1874b und Miklosich 1876a); im ersten dieser beiden Bände ist Folgendes zu lesen: "Was den Inhalt betrifft, so sind in den Märchen Elemente nachweisbar, die wir in rumunischen und magyarischen Märchen wiederfinden; auf die Lieder hat die Volkspoesie der Rumunen und Kleinrussen einen unverkennbaren Einfluss geübt" ( Miklosich 1874b: 274).

4 Schuchardt meint wahrscheinlich Heinrich (Henrik) von Wlislocki (1856-1907), einen Siebenbürger Schriftsteller, Ethnographen und Volkskundler, aus dessen Feder zahlreiche Veröffentlichungen zu den ungarischen und siebenbürgischen Zigeunern stammen. Selbst wenn die meisten von diesen Werken erst später erschienen, waren jedoch zum Zeitpunkt, zu dem der Brief verfaßt wurde, schon zumindest drei Publikationen veröffentlicht worden (vgl. die Auswahlbibliographie in Wlislocki 1994: 506): Haideblüten. Volkslieder der transsilvanischen Zigeuner (Wlislocki 1880a), Eine Hildebrands-Ballade der transsilvanischen Zigeuner (Wlislocki 1880b) sowie Adalék a czigány nyelvészet történelméhez (Wlislocki 1881). Es ist nicht klar, auf welches dieser Werke sich Schuchardt hier bezieht.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek. Siehe: [Portal]/Österreichische Nationalbibliothek, " Schuchardt, Hugo, 1842-1927 [VerfasserIn] ; Miklosich, Franz, 1813-1891 [AdressatIn]" (Sig. 138)