Hugo Schuchardt an Franz von Miklosich (07-138-41-05)

von Hugo Schuchardt

an Franz von Miklosich

Graz

05. 07. 1881

language Deutsch

Schlagwörter: Zeitschrift für romanische Philologie Spanien Borrow, George (Henry) (1841) Schuchardt, Hugo (1881)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Franz von Miklosich (07-138-41-05). Graz, 05. 07. 1881. Hrsg. von Bernhard Hurch und Luca Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2809, abgerufen am 03. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2809.


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Graz 5 Juli 1881.

Hochverehrter Herr Hofrath!

Schon einmal hatte ich – aus Spanien – die Anfrage an Sie gerichtet, ob die Zigeuner denn keine Volkspoesie besässen. Ich hatte bei den spanischen Nichts davon gefunden und auch in der Ausgabe von Borrow, welche ich in Sevilla benutzen konnte, ist meines Wissens nichts Bezügliches von irgendwelcher Wichtigkeit enthalten. Nun aber soll die Ausgabe von 1841 die ich nie gesehen habe, "an original collection of their songs and poetry" enthalten.1 Können Sie mir vielleicht sagen, wie es sich damit verhält? Ich habe mir zwar heute von der Wiener Universitätsbibliothek diese 1841er Ausgabe bestellt; aber es ist mir sehr fraglich, ob ich sie bekomme. Ich bin gerade mit einer Arbeit über eine |2| Sammlung von cantes flamencos beschäftigt,2 in welchen ich der in Spanien verbreiteten Ansicht zuwider Nichts Zigeunerisches zu entdecken vermag, als die eingestreuten Calówörter.3 Vielleicht darf ich aber doch den Ausspruch, die Zigeuner seien von Haus aus ein unpoetisches Volk, nicht wagen, ohne von dem, was Borrow über diesen Punkt sagt, Kenntnis zu haben.

Verzeihen Sie die Belästigung

In grösster Verehrung

Ihr ergebenster

H. Schuchardt


1 Borrow (1841); der von Schuchardt zitierte Satz ist Teil des Buchtitels; der zweite Band des Werks enthält eine Sammlung von Liedern und Dichtungen der gitanos. Darüber schreibt Schuchardt (1881: 254-255): "Ueber die Strophen in Caló (spanischer Zigeunersprache), welche Borrow hie und da (z. B. I 137·II *47) anführt, weiss ich Nichts zu bemerken, als dass ich Kindern so ungewisser Herkunft wenig Zutrauen schenke. Bestimmter kann ich mich über die 101 Liedchen äussern, welche Borrow zu Anfang des zweiten Bandes u. d. T. 'Rhymes of the Gitanos' veröffentlicht hat ('collected in Estremadura and New Castile, in Valencia and Andalusia' – 'scarcely a tenth part of our original gleanings, from which we have selected one hundred of the most remarkable and interesting' S. 9). Es sind das, im Grunde genommen, selbst Cantes flamencos".

2 Schuchardt (1881) veröffentlicht diese im gleichen Jahr in der Zeitschrift für romanische Philologie.

3 Vgl. Schuchardt (1881: 255): "In Bezug auf die Sprache können sie von denen Demófilo's nicht wesentlich verschieden sein, da ja das Zigeunerische Spaniens nur in seinem Lexicon eigenthümlich, in allem Andern aber spanisch ist. Und auch in dem reinsten Caló, von dem man weiss, fehlt es nicht an spanischen Wörtern, wie ó, á, de, für die sich gar keine echt-zigeunerischen nachweisen lassen. Manchmal ist die spanische Entlehnung etwas jitanisirt worden, wie sun für su, oder wird als solche gar nicht erkannt, wie mu, mus = nos" und weiter: "Ich glaube also nachgewiesen zu haben, dass die Cantes flamencos in keiner Weise als Entstellung einer alten, echten Zigeunerpoesie zu betrachten sind, sondern im Grunde als andalusische Poesie, welche zunächst in der Sprache eine gewisse Jitanisirung erfahren hat. Indem wir uns nun nach andern zigeunerischen Elementen in ihnen umsehen, werden wir im Voraus sagen, dass diese hier entweder nur zufällig erscheinen oder unter der Gunst der 'aficion' eingeführt sind, also keineswegs wesentliche und ursprüngliche Merkmale bilden" ( Schuchardt 1881: 268-269).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek. Siehe: [Portal]/Österreichische Nationalbibliothek, " Schuchardt, Hugo, 1842-1927 [VerfasserIn] ; Miklosich, Franz, 1813-1891 [AdressatIn]" (Sig. 138)