Hugo Schuchardt an Franz von Miklosich (04-138-41-04)
von Hugo Schuchardt
10. 06. 1879
Deutsch
Schlagwörter: Hofbibliothek Romanistik Universität Wien Mussafia, Adolf Quindalé, Francisco (1867–1870) Borrow, George (Henry) (1837) Lichem, Klaus/Würdinger, Wolfgang (2015)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Franz von Miklosich (04-138-41-04). Sare, 10. 06. 1879. Hrsg. von Bernhard Hurch und Luca Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2807, abgerufen am 10. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2807.
Sevilla1 10 Juni 1879.
Hochverehrter Herr Hofrath!
Vor einigen Tagen habe ich hier (mit Hülfe von Quindalé's Grammatik und Wörterbuch2 und G. Borrow's Uebersetzung des Ev. Lukas)3 das Studium des spanischen Caló begonnen und denke dasselbe nächstens in der Praxis fortzusetzen. Obwohl die Zigeuner sehr mißtrauisch und mysteriös sind und verschiedene andere Eigenschaften besitzen, welche den Umgang mit ihnen erschweren, so hoffe ich doch Einiges von ihnen selbst zu lernen, insbesondere einzelne Lieder und Sprüche zu sammeln. Nun möchte ich wissen, was über das oder in dem Idiome der spanischen Zigeuner schon veröffentlicht ist. Vielleicht existiert schon eine umfangreiche Sammlung von Texten. Hier ist jede bibliographische Information ein Ding der Unmöglichkeit und ich kenne Niemanden, der sich wissenschaftlich |2| mit dem Caló befaßt hätte. Ich wende mich daher an Ihre Güte, um über diesen Punkt unterrichtet zu werden und bitte Sie, mir ganz offen zu sagen, ob ich, der ich nie das Zigeunerische auch nur im Mindesten studirt habe, überhaupt etwas auf diesem Gebiete gelegentlich meiner Anwesenheit in Sevilla und Granada nützen kann.
Sollten Sie Mussafia4 sehen, an den ich vor 2 Monaten einmal geschrieben habe, so bitte ich ihn herzlichst von mir zu grüßen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ew. Hochwohlgeboren
treu ergebener
H. Schuchardt
Plaza nueva 10.
1 Schuchardt hielt sich 1879 ein halbes Jahr in Südspanien, vorwiegend Sevilla, auf und reiste kurz nach Portugal.
2 Quindalé (1870). Es handelt sich dabei um die 3. Auflage des erstmals 1867 erschienen Diccionario Gitano von Quindalé (Pseudonym für Francisco de Sales Mayo). Da Schuchardt Grammatik und Wörterbuch erwähnt, liegt die Annahme nahe, daß er diese 3. Auflage verwendet hat, denn nur diese enthält alle Teile.
3 Von Borrow erschien 1837 in Madrid eine Übersetzung des Lukas-Evangeliums "al Romaní, ó dialecto de los Gitanos de España" (Borrow 1837), neu 1872 in London.
4 Adolf Mussafia (1835-1905), 1857-1877 Skriptor der Wiener Hofbibliothek, wurde 1860 zum ersten außerordentlichen, 1867 zum ordentlichen Professor der romanischen Sprachen und Literaturen in Wien berufen und gilt damit als Begründer der Romanistik an der Universität Wien. Mussafia war Autodidakt, was an einigen Stellen seiner Arbeit merkbar ist; seine Bedeutung für die Romanistik der Zeit ist jedoch unbestritten. Die umfangreiche Korrespondenz zwischen Schuchardt und Mussafia, dessen Papiere in der Biblioteca dell'Università degli Studi di Firenze aufbewahrt werden, wurde von Lichem & Würdinger (2015) ediert. Darin ist allerdings kein Brief verzeichnet, der aus dieser Zeit stammt.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek. Siehe: [Portal]/Österreichische Nationalbibliothek, " Schuchardt, Hugo, 1842-1927 [VerfasserIn] ; Miklosich, Franz, 1813-1891 [AdressatIn]" (Sig. 138)