Hugo Schuchardt an Wilhelm Gurlitt (24-s-n)

von Hugo Schuchardt

an Wilhelm Gurlitt

Graz

03. 05. 1894

language Deutsch

Schlagwörter: Sprachpolitik Universitätspolitik Italienischsprachige Literatur Mehrsprachigkeit Universitäre Lehrelanguage Italienisch Pistor, Egon von

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Wilhelm Gurlitt (24-s-n). Graz, 03. 05. 1894. Hrsg. von Lilly Olet (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2755, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2755.


|1|

Graz 3[?] Mai 94

Lieber Gurlitt,

Wir müssen doch eine gewisse innere Verwandtschaft miteinander haben; wenn unsere Ansichten sich feindlich, so kreuzen unsere Absichten sich freundlich. Ich wollte Dir gestern schreiben, fühlte mich aber zu elend dazu; heute geht es mir kaum besser, doch will ich Deine Zeilen wenigstens mit einigen erwidern – erschöpfen ließe sich ja der Gegenstand nur in einer [?].

Wir weichen allerdings schon in den Grundanschauungen voneinander ab, ich weiß Du gibst das: „Was Du nicht willst dass …......“ in nationalen Dingen nicht zu. Ich bin nicht so unpatriotisch wie Du vielleicht denkst; aber hier vielleicht besondern idiotropisch (ich nehme das als ein Lobwort, ist es doch der Gegensatz von allotropisch). Um meiner Auffassung wenigstens anzu- |2| deuten : Alles das was wir einmal haben, festhalten, keinen Zollbreit davon abtreten wollen, halte ich für unvernünftig und unsittlich. Wir haben vielleicht Manches was uns nicht gebührt, und Manches nicht was uns gebührt. Das was uns gebührt, aber sollen wir vertheidigen und erwerben mit einer ganz anderen, ich möchte sagen, „magyarischen“ Energie. Der kühle, nörgelnde Patriotismus eines großen Theils der Deutsch-österreicher ist mir unsympathisch. Die Italiener nur sind eine Culturnation; sie hätten auch innerhalb Österreichs das Recht auf italienische Vorlesungen, eine Universität wird ihnen bekanntlich, und  meinetwegen auch begreiflicher Weise nicht gewährt; sie ihnen aber an einer österreichischen Universität in Graz, deren deutscher Charakter zwar gewohnheitsmäßig feststeht, aber zusetzlich [sic] nicht ausgesprochen ist, |3| in Bezug auf italienische Sprache und Litteratur verweigern oder in nur bedingter Weise zuzugestehen, erscheint mir kleinlich, unbillig und aller politischen Clugheit zuwiderlaufend. Du meinst ein Deutscher dürfe auch hier sein Veto gegen zehn Italiener einlegen? [Hieße] das nicht eine alttestamentliche Härte? Und der Erfolg? Die zehn Italiener würden wegbleiben.* Wenn die Italiener ganz im Allgemeinen gezwungen werden, deutsch zu lernen; so könnte in einem solch besonderen Fall wohl auch der Deutsche gezwungen werden, italienisch zu lernen. Ein bischen mehr Zweisprachigkeit schadete dem Deutsch-Österreicher, auch aus nationalpolitischer Hinsicht, nicht; darüber wollte ich immer schon einmal schreiben – als ich nach |4| Öesterreich kam und diese Ansicht vorbrachte, hat man mich einfach ausgelacht, jetzt sehe ich dass darüber auch ein so „strammer“ Deutscher wie E. von Pistor1 ähnlich denkt wie ich. Von Standpunkt des Fachmannes bin ich durchaus für italienische Vorlesungen, wenigstens über italienische Litteratur; ich habe selbst zu oft empfunden wie kläglich ist es, die Bruchstücke der Dichter, die Citate aus den Litterarhistorikern  in eine fremde Sprache übersetzen zu müssen. Natürlich hätte ich aber nie in französischer oder italienischer Sprache  solche Vorträge halten können; dazu gehört ein Schwung und eine Wärme wie ihn uns die Muttersprache verleiht. Nur denke Dir einen Italiener vor Italienern über italienische Dichter in deutscher Sprache vortragend; wie kläglich und unfruchtbar wäre das! –

|5|

Du siehst, die Gleichgültigkeit des Themas der Vorlesungen gebe ich Dir nicht zu.

Was aber das andere anlangt, das wovon Du mündlich mir Mittheilung machtest, daß man in gewissen Fragen mit seinen Stammgenossen oder Sprachgenossen (ich weiß nicht wie Du sagtest) stimmen müsste, so bemerke ich dazu oder dagegen noch Folgendes. Ich will einmal zugeben dass die Majorität eben als solches das Richtige trifft – was wie Du weißt doch vielfach bestritten wird - , so würde ich unter der Majorität doch nur die Stimmen derjenigen begreifen, die eine allseitige Cenntniss von der Sache besitzen, die Frage wirklich |6| erwägen und sich nicht durch irgendwelche selbstsüchtigen oder parteiischen Motive bestimmen lassen. Die Meinungen aller Andersgearteten existieren einfach für mich nicht; und es macht auf mich auch nicht den geringsten Eindruck wenn Einer einmal für einen bestimmten Fall sein deutsches Herz entdeckt. Als Freund und als Mensch der sich seine Meinung selbst erwirbt, kannst Du mir wirklich nicht empfehlen mich an die rein numerische Mehrheit anzuschließen.

Mit herzlichstem Gruße

Dein

H Schuchardt

* Wenn jener Grundsatz ausgesprochen würde, so fände sich natürlich aus „Patriotismus“ immer ein Deutscher das Veto einzulegen.


1 Egon von Pistor (1844-1902), deutscher Aktivist in der damaligen Untersteiermark (ÖEBL 1980: 101, s.v. Pistor, Felix von).

Faksimiles: Universitätsarchiv Graz, Nachlass Wilhelm Gurlitt, Creative Commons BY-NC-SA (Sig. s)