Hugo Schuchardt an Wilhelm Gurlitt (20-s-n)

von Hugo Schuchardt

an Wilhelm Gurlitt

Graz

09. 11. 1891

language Deutsch

Schlagwörter: Nationalismus Nationalität Varusschlacht Befreiungskriege Deutsch-Französischer Krieg Diglossie/Polyglossie Liberalismuslanguage Deutsche Dialektelanguage Niederdeutschlanguage Deutsch Treitschke, Heinrich von Alighieri, Dante

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Wilhelm Gurlitt (20-s-n). Graz, 09. 11. 1891. Hrsg. von Lilly Olet (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2745, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2745.


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Graz 9 Nov .91.

Lieber Gurlitt,

ich glaube schliesslich dass wir nicht sowohl sehr weitauseinander auseinandergehen als dass wir uns nicht gehörig verstehen: Wenigstens gelingt es mir nicht Dir in Deinen Anschauungen Schritt für Schritt zu folgen; es mag meine Schuld sein.

Es schien mir dass wir über das Wesen der Nationalität in Einklang befänden, insofern als |2| es sich um etwas in den einzelnen Fällen verschiedenartig Zusammengestelltes und Entwickeltes, nicht überall Gleiches und von Haus aus Gegebenes handele. Vielleicht darf ich auch in Anschluss auf deinen Hinweis auf die Selbstbestimmung sagen: Nationalität ist da wo Nationgefühl ist. Dass nun das letztere, sowie wir es heutzutage verstehen, etwas Neues ist – ähnlich wie das Naturgefühl, das nehme ich zunächst auf meine eigene Kappe. Immerhin begreife ich nicht wie der Aufstand des Arminius überhaupt bei dieser Gelegenheit erwähnt werden kann. Es hat damals nur deutsche Stämme, kein deutsches Volk gegeben und eine solche |3| Volkseinheit ist auch für eine Urzeit nicht anzusetzen. Tacitus' Germania dürfte uns da leicht verblenden. Im Mittelalter war die Scheidung zwischen Nord und Süd sehr gross, indem das Plattdeutsche und das Oberdeutsch sich kaum miteinander verständigen konnten. Dann kam die religiöse Spaltung, aber sie hatte in ihrem Gefolge doch etwas Gutes: Einheit der Schriftsprache, der Literatur und dank ihr, sind wir zur politischen Einheit gelangt. Die Konvergenz hat also mehr und mehr zugenommen. Mit den Italienern verhält es sich ähnlich; und daher sind für mich – Du bist hierin ganz anderer Ansicht - |4| die beiden Nationen κατ'  ἔξοχην1 die Deutschen und die Italiener. Hier ist die nationale Idee am stärksten gewesen weil sie zur Verkörperung der Nationalität die grössten Schwierigkeiten zu überwinden hatte.*

Du wirst mir hoffentlich nicht einwenden dass die staatliche Zerissenheit beider Länder auf dem Charakter ihrer Bewohner beruhe. Dass die Keltoromanen eher zur Staatseinheit und zu einer festeren gelangten als die Germanen, das würde sich aus dem was wir über das innere Wesen beider Bevölkerungen aus früher Zeit wissen, keinesfalls herleiten lassen; es ist eine Folge |5| von sehr verwickelten äusseren Umständen.

Eine Behauptung von Dir vermag ich mir nicht zu Recht zu legen. Wenn wirklich die Deutschen sich nur einmal für nationale Interessen geschlagen haben, nämlich 1813 (warum nicht 1870?)2, so sehe ich nicht dass andere Völker das öfter gethan hätten. Die alten Hellenen waren ja auch meistens in Krieg und Hader miteinander; nur als Nation traten sie doch nur den Persern gegenüber auf. Wie kannst Du denn die Deutschen insgesammt mit einem einzelnen hellenistischen Stamm, der Arkaden vergleichen? Man müsste doch fragen inwiefern die Sachsen, die Franken u.s.w. Reisläufer zu nennen wären. - Willst du |6| denn allen Kämpfen der früh geeinten Engländern, Franzosen, Spanier einen nationalen Charakter zu erkennen? Oder welchen überhaupt? Gerade diese schlugen sich im Grunde nur für ihre Monarchen.

Du sagst: der Nationalismus der einen Nation wird sich in kurzer Zeit (?) in Gleichgewicht setzen mit dem der andern. Ich füge hinzu dass das doch  möglich ist wenn der Nationalismus nicht über das ihm angewiesene Gebiet hinaus strebt, d.h. wenn er sich mit Gerechtigkeit paart. Warum kämpfst du nur dagegen an? Das gebe ich Dir ja ohne Weiteres zu dass die Grenze streitig sein kann. Aber |7| wenn nun die Ungerechtigkeit klar zu Tage liegt? Dass alle Nationen ins Gleichgewicht kommen, wäre nur unter der Bedingung möglich dass sie materiell gleich stark wären. Das ist aber nicht der Fall nur so kann das schwächere Element von dem stärkeren leicht vergewaltigt werden. Mein Vetter, ein preussischer Landrath3 – und natürlich konservativ – fragte mich neulich ob ich es nicht für eine unglaubliche Rohheit hielte wie man in Posen die Polen, und zwar mit Hilfe ihrer eigenen Steuergelder, aus dem Bau treibe. Du wirst antworten: Staatsnotwendigkeit – und die einst  gegebenen feierlichen Versprechungen? |8| Du sprichst auch von einem Gegensatz des Nationalismus zu liberaler, centralistischer Bestrebungen. Wohin ich sehe, finde ich konservative, partikularistische Bestrebungen als Gegner des Nationalismus.

Du sagst u.A. „Unser Ideal ist ein verschiedenes“,schilderst darauf eine Vertheilung der Erde unter verschiedene Nationalitäten u.s.w. in Friede, Freundschaft, Gerechtigkeit und schliesst „Du willst dasselbe und wer wollte es nicht?“ Unsere Differenz würde sich also nur auf den Weg auf dem das Ideal zu erreichen ist, nicht auf dieses selbst beziehen. In der That herrscht eine Verschiedenheit in Bezug auf das Ideal, die Du am Schlusse doch annimmst, nicht. Ich will nicht eine Verwischung der Nationalitäten wenn ich eine Unterordnung derselben (Keine Auflösung!) unter die |9| Humanität annehme, so wenig wie die Individualitäten dadurch aufgehoben werden dass sie sich in staatliche, moralische oder sonstige Ordnungen einfügen.

Wenn Du die Grenzen der Nationalitäten als mehr oder weniger feste annimmst und auf Grund davon meine Berücksichtigung der Übergänge und Vermittlungen zurückweisest, so scheint mir doch die geschichtliche Entwicklung – sei es auch im Laufe noch so langer Zeit – immer wieder alte Nationen untergehen und neue entstehen zu lassen, also eine Verschiebung der Grenzen nicht nur, sondern einen vollständigen Wandel des Begrenzten selbst darzuthun. |10| In Anderem was Du sagst bin ich mit Dir einverstanden Du wirst mir wohl auch zugeben dass wie für den Verkehr zwischen Individuen, so auch für den zwischen allen möglichen grösseren oder kleineren Gemeinschaften, mögen sie Nation oder wie sonst heissen, Gerechtigkeit und Wahrheit als normative Prinzipien unentbehrlich sind. Weiter wollte ich Nichts sagen. Ich meinte, ich hätte die Deutschen für die gerechteste und wahrhafteste Nation gehalten; dass sie es im Ganzen selbst thun, versteht sich von selbst. Jede |11| Nation hält sich für die beste, auch für die tapferste und gescheiteste, um nicht zu sagen die waffengewaltigste und gedankenschwerste. „Waffengewaltig“ hat übrigens vor 1868 Treitschke die Deutschen kaum genannt.4

Verzeihe wenn ich – wie ich hinterher sehe – mich zuweilen etwas kurz angebunden, fast wie in erhitztem Gespräche, ausgedrückt habe; denke Dir eine sanfte Musik dazu – c'est le ton qui fait la musique – es ist wirklich nur weil es mir heute saurer fällt zu schreiben dass ich mich anscheinend gröber ausdrücke. Ich bin Dir für Deine Auseinandersetzungen sehr dankbar; ich werde die Frage zunächst an fremden Völkern – wo mein deutscher Nationalismus ganz ausser dem Spiel bleibt – weiter studieren, und dann werden wir sehen.

Mit bestem Gruß

Dein

HS.

* Was haben die andern Völker solchen national vorahnenden Dichtern wie Walther von der Vogelweide und Dante zur Seite zu stellen?


1 besonders, hervorragend.

2 1813: Völkerschlacht in Leipzig; 1870-1871: Deutsch-Französischer Krieg.

3 Schuchardts Cousin Hans Dietrich von Holleuffer (1855-1902) war 1883-1895 Landrat in Löwenberg/Schlesien und zwischen 1892 und 1896 Mitglied des Reichstages für den Wahlkreis Löwenberg. Im Nachlass Schuchardts befindet sich ein Brief von Holleuffer, der jedoch nicht in Zusammenhang mit dem hier erwähnten Gespräch steht (Brief.Nr. 04833) (vgl. Best 2008 : s.v. Holleuffer, Hans Dietrich von).

4 Das bereits im vorigen Brief erwähnte Zitat konnte nicht genauer zugeordnet werden, in Frage kommt der 1868 als Aufsatz erschienene offene Brief „Altpreußen und die deutsch-russischen Ostseeprovinzen“ (vgl. Treitschke 1868 ).

Faksimiles: Universitätsarchiv Graz, Nachlass Wilhelm Gurlitt, Creative Commons BY-NC-SA (Sig. s)