Hugo Schuchardt an Wilhelm Gurlitt (18-s-n)
von Hugo Schuchardt
02. 11. 1891
Deutsch
Schlagwörter: Nationalität Nationalismus Gesundheit Deutsch-Französischer Krieg Sprachpolitik Sozialismus Biographisches
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Wilhelm Gurlitt (18-s-n). Graz, 02. 11. 1891. Hrsg. von Lilly Olet (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2743, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2743.
Graz Allerseelen `91.
Lieber Gurlitt,
Auch ich habe durch Besuch und durch die ewig wechselnden Beschwerden eines Neurasthenikers verhindert nicht sofort Deinen ausführlichen Brief beantworten können. Übrigens handelt es sich ja nicht sowohl darum dass ich Dich belehre als dass Du mich belehrest.
In Bezug auf Dein Einleitendes habe ich dies zu sagen:
|2|Du meinst, meiner Anschauung liege die Empfindung zu Grunde ob der Nationalismus der allgemeinen Humanitätsidee irgendwie entgegengesetzt sei. Ganz im Gegentheil; der Nationalismus welchen ich als etwas Natürliches und Berechtigtes ansehe dient der Humanität. Wo er sich, wie das heutzutage - unter agitatorischen Einflüssen - so vielfach geschickt, im Widerspruch zur Humanität setzt, da spreche ich ihm eben die Berechtigung ab, oder wenn Du willst, wir haben es dann nicht mehr mit Nationalismus sondern mit Chauvinismus zu thun.-
Deinen Bemerkungen über das Betragen der Engländer, Franzosen und Deutschen im Ausland stimme ich bei. Da haben wir aber |3| die unabänderliche Folge geschichtlicher Verhältnisse. V. Hillebrand hat sich irgendwo über diese Verschiedenheit zwischen den beiden Westvölkern und uns verbreitet, er wünscht uns eine ensprechend nationale Kultur aber wir können uns weder so isolieren – im eigentlichen Sinn der Wörter wie die Engländer – noch würden wir uns so centralisieren wollen wie die Franzosen zur Zeit Ludwigs des XIVen. Auch kommt Folgendes noch in Betracht. Die Engländer im Ausland sind schon aus dem äusserlichen Grunde „adliger“ als die Deutschen weil sie zum grössten Theil da als Rentiere leben. Die Deutschen aber nur zum gerigsten Theile als solche; sondern meistens als Kaufleute, Wir- |4| the u.s.w – oder zum Behufe der Vorbereitung auf einen bestimmten Beruf. Man findet auf dem Kontinent, etwa von Künstlern und Gouvernanten abgesehen, fast gar keine arbeitenden Engländer. Übrigens hat sich das Verhältnis neuerdings erheblich geändert; so war z.B. das Montreux von 1867 ganz englisch, jetzt ist es vorwiegend deutsch – und der Stammtisch, in dem der Frühschoppen in bairisch Bier getrunken wird, stellt sich in seiner Exclusivität dem englischen Theetisch dort würdig zur Seite. Was ich über den Sozialismus sagte, scheinst Du etwas missverstanden zu haben. Ich glaube gerade von der jetzigen Form derselben abgesehen zu haben. Die Frage würde, |5| kurz gesagt, die sein; ist der Unterschied zwischen den Gesellschaftsklassen nicht thatsächlich wichtiger als der zwischen den Nationalitäten?
Deine Auslassungen über das Wesen der Nationalität sind sehr treffend. Ich sehe dass wenn wir in den Betrachtungsergebnissen auch auseinandergehen, wir doch ziemlich gleichen Betrachtungsmethoden huldigen. Das Familiengefühl, das Stammesgefühl ist etwas verhältnismässig einfaches und aprioristisch festzustellen, das Nationalitätsgefühl nicht. Ich bestreite durchausnicht die Berrechtigung der von dir gegebenen historischen Erklärung; aber wir können die Dinge doch auch in ruhendem |6| Zustande betrachten. Und da werden wir sehen wie ein und derselbe Mensch verschiedenen Gemeinschaften angehört, insbesondere der religiösen, der sprachlichen, der staatlichen. Je mehr dieselben sich decken, desto bestimmter wird die Zugehörigkeit des Betreffenden sein, ich möchte – im allerweitesten Sinne – sagen: seine Nationalität; die Religion ist ja hie und da das wesentliche Element derselben gewesen, sehr oft hat sie die gesammte Kultur bestimmt, und jedenfalls fallen Kultur- und Sprachgemeinschaft nicht immer zusammen. Schneiden sich aber derartige Kreise bei weit auseinanderliegenden Centren, dann frägt es sich wohin man am stärksten gravitiert.
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(3 Okt.1 Eben Deine Karte erhalten; meine Nerven waren gestern durch die Schneeluft in Anspruch genommen)
Da tritt denn der Wille oder die Willkür ein, darauf hast Du ganz richtig hingewiesen. Ist dieses subjektive Element nun in jedem Falle das Massgebende? Wird ein |7| Deutscher (von deutschen Eltern geboren und in deutscher Sprache und Sitte auferzogen) durch seinen Willen Franzose, natürlichen unter der Vorraussetzung dass er sich franz Sprache und Sitte aneignet? Wir haben ja mehrere Fälle welche sich hier anführen lassen. Alb. Wolff2 u.s.w. Dass [sic] individuelle Selbstbewusstsein lässt sich meines Erachtens nicht mit dem nationalen vergleichen; denn die Scheide zwischen Individuum und Individuum ist die allereinzige feste welche es überhaupt unter den Menschen gibt. Ich muss sagen: Ich bin ich, ich kann nicht sagen: ich bin Du; aber ich kann ebensowohl sagen: Ich bin ein Deutscher als: ich bin ein Franzose. Muss jemand den von deutscher Mutter und französischem Vater stammt und beider Sprachen gleich mächtig ist, für eine der beiden Nationalitäten – ich spreche nicht von der Staatsangehörigkeit; nehmen wir an, er lebe in Italien – optieren?3 Kann er sich nicht als ein vermittelndes Glied betrachten? Mir tritt, je wissenschaftlicher ich zu denken lerne, mehr und mehr in |8| Natur und Menschenleben die Stetigkeit entgegen; es gibt keine Gegensätze, alles ist durch Uebergänge verbunden.
Du wirst mir übrigens zugeben dass nach der allgemein herrschenden Ansicht die Sprache das Einzige ist worauf es ankommt; allerortes sucht man durch Aufdrängung der Sprache zu entnationalisiren. Ueber Weiteres will ich nicht reden; denn Du trittst mir da mit einem kategorischen Imperativ entgegen. Wenn ich nur Gerechtigkeit und Wahrheit nicht aus den Augen lasse, darf ich dann nicht über Alles schreiben? Wie kann ich dadurch meiner Nation zu nahe treten? Ich bin in dem Glauben aufgewachsen dass die Deutschen die gerechteste und wahrhafteste Nation seien – würde dieser Glaube in mir erschüttert, dann würde ich mich des deutschen Namens nicht mehr freuen. Nicht auf Macht und Grösse kommt es an, nur auf die Ideale denen wir dienen. Frankreich hat mehr als durch den Krieg von 1870 jetzt durch den Verzicht auf die Ideale seiner Vergangenheit verloren.
Mit bestem Gruß
Dein
HS.
1 Hier ist wohl der 3. November gemeint. Die erwähnte Karte ist nicht erhalten.
2 Albert Wolff (1835–1891), deutsch-französischer Journalist.
3 Schuchardts Mutter stammte aus der französischen Schweiz, sein Vater war Deutscher.
Faksimiles: Universitätsarchiv Graz, Nachlass Wilhelm Gurlitt, Creative Commons BY-NC-SA (Sig. s)