Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (16-10389)

von Friedrich Schürr

an Hugo Schuchardt

Freiburg im Breisgau

18. 01. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Philosophielanguage Romanische Sprachenlanguage Lateinlanguage Rumänisch Meyer-Lübke, Wilhelm Gamillscheg, Ernst Lerch, Eugen Rohlfs, Gerhard Winkler, Emil Brüch, Josef Urtel, Hermann Wartburg, Walter von Straßburg Schuchardt, Hugo (1925) Schürr, Friedrich (1922)

Zitiervorschlag: Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (16-10389). Freiburg im Breisgau, 18. 01. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2713, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2713.


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Freiburg, 18. Januar 1926.
Schwaighofstrasse 20.

Hochverehrter Herr Hofrat !

Vielen Dank für die freundliche Übersendung Ihrer Akademieschrift über den Individualismus in der Sprachforschung,1 die ich mit großem Interesse gelesen habe. Manches, was Sie aus Ihrem Lebens- und Werdegang erzählen, trifft bei mir auf verwandte Saiten. Wenigstens habe auch ich seit frühester Jugend eine ausgesprochene Neigung zur Autodidaxis gehabt und bin von dieser Seite an die roman. Sprachen und das Latein herangetreten, während ich nach dem Wunsche meiner Eltern Ingenieur werden sollte (ich habe Realschule und ein Jahr technische Hochschule besucht). In der Philosophie, die mich mehr und mehr interessiert, bin ich heute noch Autodidakt. Auch zieht es mich in der Wissenschaft auf weniger begangene Pfade und so kam ich zum Romagnolischen, Rumänischen u.s.w., was freilich dem äußeren Erfolg abträglich ist. Namentlich aber pflichte ich in dem Kampf der Richtungen Ihrem Standpunkt bei. Ich vermag es durchaus nicht einzusehen, daß der einzelne Forscher in irgend eine Richtung eingezwängt werden soll, irgend einer Schule angehören muß. Warum darf man nicht seine eigenen Wege gehen, unbeschadet der Dankbarkeit, die man seinem Lehrer schuldet? Ich weiß von verschiedenen Seiten, daß Meyer-Lübke mein „Sprachw. u. Zeitgeist” als Abfall empfunden hat. Es tut mir leid, aber ich kann es nicht ändern: ich muß mir auch in Hinkunft meine wissenschaftliche Handlungsfreiheit vorbehalten. Der immer mehr ausartende Kampf zwischen Positivisten und Idealisten, das seit einiger Zeit in Erscheinung tretende Kesseltreiben gegen die letzteren (im Norden wird der Kampf gegen den Individualismus organisiert und Gamillscheg ist jetzt mit einer der Organisatoren) erfüllt mich mit Widerwillen. Freilich haben Lerch und Klemperer durch ihr Phalanxbilden u.s.w. den Ausbruch der Feindseligkeiten provoziert, auch |2| ersterer hätte einen so nachlässigen und flüchtigen Aufsatz wie den in der Walzelfestschrift2 nicht von sich geben dürfen, womit er Rohlfs die Angriffspunkte geboten hat.

Sie schreiben an einer Stelle, schon 1872 hätte Ihnen ein Fachgenosse gesagt, Sie würden ohne die Herausgabe eines altfranz. Textes nicht weiterkommen. Ganz in demselben Sinn sprach mir noch Schultz-Gora in Straßburg. In wenigen Jahren haben sich die Anschauungen geändert. Heute muß man über neueste franz. Literatur schreiben, um etwas zu gelten. Ich bin hier und ohne daß ich mich in meiner abhängigen (und zwar auch materiell abhängigen) Stellung dem entziehen konnte, immer darauf hingedrängt worden, allerlei Vorlesungen zu halten über das Maß derer hinaus, für die ich verpflichtet und bezahlt­ war und bin so durch die vielen Kollegs nur wenig zum Produzieren gekommen. Namentlich wurde ich immer auf die Literaturgeschichte hingedrängt. Ich muß zwar sagen, daß ich der Literaturgeschichte vom geistesgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet (und als Frucht dieser neuen Interessen wird demnächst mein Buch „Das altfranzösische Epos, Zur Stilgeschichte und inneren Form der Gotik” erscheinen) immer mehr Interesse abgewonnen habe, aber was mußte ich nur erleben? Als in Innsbruck die Liste für die Nachfolgerschaft Gamillschegs aufgestellt wurde, ist Winkler gegen mich aufgetreten mit der Begründung, es handle sich um eine rein grammatische Professur und ich sei „nicht mehr der Linguist von ehedem”. Diese Haltung Winklers ist ja wahrscheinlich die Rache dafür, daß ich in einer Rezension seine Identifizierung der Marie de France mit Marie de Champagne abgelehnt habe. Aber welche Rolle hat Gamillscheg dabei gespielt, der mir ein halbes Jahr vorher aus freien Stücken versicherte, wenn er ja von Innsbruck fortgehen sollte, würde er für mich eintreten? Vielleicht hat mitgespielt, daß ich auch des Idealismus verdächtig bin. Es wird sich ja vielleicht empfehlen, bei Berufungen in der Romanistik den Modernisteneid einzuführen. Und nun die Liste in Innsbruck: 1. Brüch, 2. Urtel,3. v. Wartburg. Wobei Urtel ja auch in den letzten Jahren an seinem Buch über Maupassant geschrieben hat und daher ebenfalls „nicht mehr der Linguist von ehedem” ist. Wie dem auch sei, ich weiß, daß ich isoliert bin, habe dafür aber das beruhigende Bewußtsein, daß ich, wenn ich je einen Ruf kriegen sollte, ihn nur meinen wissenschaftlichen Leistungen selbst verdanken würde.

In steter Verehrung

Ihr sehr ergebener

FriedSchürr


1 Schuchardt (1925c).

2 Der Zusammenhang wird derzeit untersucht.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10389)