Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (10-10383)

von Friedrich Schürr

an Hugo Schuchardt

Freiburg im Breisgau

08. 07. 1923

language Deutsch

Schlagwörter: Kindersprache Universität Graz Neumann, Fritz Spitzer, Leo Spitzer, Leo (1922)

Zitiervorschlag: Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (10-10383). Freiburg im Breisgau, 08. 07. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2707, abgerufen am 21. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2707.


|1|

Freiburg, 8. VII. 23.

Hochverehrter Herr Hofrat !

Ihren freundlichen brief zu beantworten komme ich leider erst heute dazu. Inzwischen habe ich mir das manuskript der besprechung des Vosslerschen aufsatzes von Neumann zurückerbeten und darin die notwendige korrektur vorgenommen. Ich weise jetzt darauf hin, dass V. Ihre definition des satzes, wenigstens was die verwendung des terminus prädikat betrifft, missverstanden haben dürfte, dass also der von ihm aufgedeckte gegensatz zwischen Ihnen beiden an sich nicht so gross sei. Dann füge ich unter anderem hinzu: “Der ursprung des satzes wie der sprache überhaupt liegt also nicht sowohl in den einfachen ausdruckslauten als unwillkürlichen reflexbewegungen, die von einem affektischen erlebnis ausgelöst werden, als vielmehr in dem moment, wo zum erstenmal die denkende objektivierung, die innere formung des erlebten, vollzogen wird. Diese objektivierung, die stellungnahme zu dem eigenen erlebnis, aber wird ursprünglich veranlasst durch das bedürfnis nach mitteilung .... Sch. nun sucht eben den moment, wo die primitive seele des urmenschen den schritt vom einfachen erlebnis zum bewussten und gewollten ausdruck desselben, bezw. zur inneren formung, vollzieht, zu erfassen. V. stellt die schon gewordene innere form ihrem inhalt gegenüber und sieht so das problem eher von der ästhetischen als von der psychologischen seite her an. Beide nähern sich so demselben punkte, dem moment der inneren formung, aber von verschiedenen seiten her ...” Im übrigen beruhigt mich Ihre beurteilung des tones, den ich gegenüber V. angeschlagen habe. – der Sternschen definition des satzes stimme ich übrigens in meinem aufsatze nich ohne weiters zu, sondern führe sie nur an mit der bemerkung, dass sie ebenso wenig wie andere begriffliche definitionen dem wesen des satzes in seiner gänze gerecht werden kann. Und was nun die heranziehung der kindersprache betrifft, so bin ich mir dessen wohl bewusst, dass hier die nachahmung der erwachsenen eine sehr grosse rolle spielt. Aber trotz den [sic] moments der nachahmung bleibt hier das psychologische problem der erstmaligen objektivierung, formung eines erlebnisses. Man muss nur berücksichtigen, dass die form als solche allerdings dem kin|2|de von aussen zugetragen werden kann. Auch sind an die ersten kindeslaute knüpfende spekulationen über die formen der ursprache natürlich hinfällig. Immerhin glaube ich, dass man mit einiger vorsicht auch aus der kindersprache schlüsse ziehen kann.

Zu dem ”traumhaften deutsch” bemerkte kollege Ammann, dem ich seinerzeit das Wassermannsche feuilleton zeigte,1 als traumhaft erscheine ihm daran die grammatische und flexivische willkür, die vergewaltigung der sprache, wie sie tatsächlich im traum vorkomme. Darüber kann ich nichts sagen; an mir habe ich keine derartigen beobachtungen gemacht und mich mit der psychologie des traumes nicht weiter beschäftigt.

Wenn ich bei der beschäftigung mit allgemein sprachlichen fragen Ih[re] aufsätze durchsehen werde, werde ich mir gern das notieren, was ich nicht verstehe und Sie dann um aufklärung bitten. Die einzelnen aufsätze besitze ich allerdings als solche nicht, wohl aber das von Spitzer zusammengestellte brevier, das ja die wichtigsten auszüge enthält. – Prof. Löwy, ihn meinen Sie jedenfalls, schrieb mir seinerzeit wegen eines exemplares meines büchleins, das seit einiger zeit vergriffen ist. Es freut mich, dass es ihm so gefällt. Inzwischen bin ich mit dem verleger in unterhandlung wegen einer neuauflage, in der ich wohl einige veränderungen und ergänzungen anbringen möchte. Die abrechnung von der 1. auflage habe ich aber noch immer nicht erhalten.

Schade, dass die Grazer sache so ganz im sande verlaufen ist, so dass mir der an sich so ehrenvolle vorschlag an einziger stelle nicht einmal bei einer anderen gelegenheit nützt! Denn wer weiss wohl etwas in Deutschland von dem Grazer vorschlag? Den meisten ist ja sogar die existenz der Iveschen professur2 unbekannt gewesen.

In hochachtung und verehrung

Ihr sehr ergebener

FriedSchürr


1 Cfr. die letzten Briefe.

2 Antonio Ive war Nachfolger Schuchardts an der Universität Graz.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10383)