Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (04-10377)

von Friedrich Schürr

an Hugo Schuchardt

Freiburg im Breisgau

29. 01. 1923

language Deutsch

Schlagwörter: Neuphilologische Gesellschaft Finck, Franz Nikolaus Meyer-Lübke, Wilhelm Jaberg, Karl Vossler, Karl Ammann, Hermann Straßburg Finck, Franz Nikolaus (1899) Hausmann, Frank-Rutger (1998)

Zitiervorschlag: Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (04-10377). Freiburg im Breisgau, 29. 01. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2701, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2701.


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Freiburg, 29. I. 23.

Hochverehrter Herr Hofrat!

Vielen Dank für Ihren freundlichen brief. Es freut mich sehr zu hören und ist für mich sehr wert- und ehrenvoll, dass meine kleine schrift noch einmal von Ihnen zitiert werden soll. Einstweilen bin ich noch nicht dazu gekommen, den vortrag für die hiesige Neuphilologische Gesellschaft auszuarbeiten, in dem ich die gewissen grundfragen noch einmal aufrollen will. Ich werde ihn vermutlich erst zu beginn des sommersemesters halten. Aber ich habe inzwischen 2 schriften von Finck gelesen, auf den ich von 2 seiten hingewiesen worden bin, von Meyer-Lübke und Jaberg nämlich, die ihm ein prioritätsrecht gegenüber Vossler zuerkennen wollen. Von Finck sei das, was Vossler will, auch schon, aber ebenfalls vergebens versucht worden. Eine priorität gegenüber Vossler käme Fincks “Deutschem sprachbau als ausdruck deutscher weltanschauung” zu.1 Mir scheint jedoch, dass Fincks interessanter Versuch zu wenig historisch orientiert ist, dass er fälschlich von der völkerpsychologie ausgeht, statt wie Vossler von einer historisch gerichteten kulturpsychologie. Er vernachlässigt den umstand, dass die heutigen vertreter einer sprache auch in ihrer rassenmässigen zusammensetzung fast nirgends mehr dieselben sind wie die, die jene einst geprägt haben.2 Uebrigens habe ich dieser tage auch den hübschen aufsatz von Hans Naumann “Versuch einer geschichte der deutschen sprache als geschichte des deutschen geistes” in der neuen vierteljahresschrift für literaturwissenschaft und geistesgeschichte gelesen, wo der verfasser sich vielfach mit meinen anschauungen berührt.3 Auch Naumann hält übrigens an dem mitteilungszweck der sprache fest. Die möglichkeit einer verständigung mit der Vosslerschen auffassung in diesem punkte gebe ich aber noch immer nicht auf. Abgesehen von der sprache als künstlerischer form - das ist ein fall für sich - können lautliche äusserungen wie gebärden beim urmenschen und noch heute eine rein af-|2|fektische stellungnahme zu wahrgenommenem und erlebtem verraten und dies wäre dann sprache ohne mitteilungszweck. Soviel würde ich Vossler zugeben. Aber dies berührt nicht die definition dessen, was wir gewöhnlich unter sprache verstehen.

Croces aufsatz in der Critica ist mir nicht zu gesicht gekommen.4 Wir haben die Critica hier allerdings gar nicht, ja wir können kaum überhaupt noch ausländische zeitschriften halten, sofern sie nicht vom ausland geschenkt werden. In unserem fach ist die hiesige bibliothek seit jeher sehr kümmerlich gewesen, in hinkunft aber wird es kaum noch möglich sein, hier gedeihlich zu arbeiten. Wie glänzend waren die bibliotheksverhältnisse in Strassburg!

Kollegen Ammann habe ich von Ihrer sendung mitteilung gemacht. Die hiesige post ist allerdings nicht sehr findig und hat auch mir schon böse streiche gespielt. Amman(n) wohnt jetzt Hildastrasse 53.

Unser ganzes leben steht jetzt im zeichen des nationalen widerstandes.

In verehrung und ergebenheit

Ihr

FriedSchürr


1 Finck (1899).

2 Diese Position sollte in der NS-Ideologie nochmals skurrile Blüten treiben. Vgl. auch Hausmann (1998). Mit dieser Position ist Finck in der Tat nicht sehr kompatibel.

3 Hans Naumann war einer der führenden Autoren nationalsozialistisch-germanistischen Gedankenguts und Mitglied verschiedener "Bildungs"-Einrichtungen des NS-Regimes; stellvertretend sei nur genannt, daß er einer der Protagonisten der Berliner Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 war und dort auch die Brandrede hielt. Die von Schürr als "hübscher Aufsatz" betitelte Schrift weist durchaus in diese spätere Richtung.

4 Da Croce einer der Begründer, Herausgeber und regelmäßigen Autoren dieser Zeitschrift war, ist es schwierig festzustellen, von welcher Arbeit hier die Rede ist.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 10377)