Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (03-10376)
von Friedrich Schürr
an Hugo Schuchardt
04. 01. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft Lerch, Eugen Croce, Benedetto Vossler, Karl Schürr, Friedrich (1922)
Zitiervorschlag: Friedrich Schürr an Hugo Schuchardt (03-10376). Freiburg im Breisgau, 04. 01. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2700, abgerufen am 09. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2700.
Freiburg, 4. I. 1923.
Hochverehrter Herr Hofrat !
Verzeihen Sie, dass ich Ihre freundliche karte vom 5. XII. erst jetzt beantworte. Erst jetzt, am ende der weihnachtsferien, komme ich dazu, da ich während des Semesters stets viel zu tun habe. Was mir immer am meisten zu tun gibt, ist die neuausarbeitung von litteraturvorlesungen, die ich dem dringenden rate des ordinarius folgend halte. Prof. Heiss weist mich immer darauf hin, dass bei berufungen auch die kollegtätigkeit eine grosse rolle spielt und bei der jetzigen zeit- und geschmacksrichtung innerhalb der deutschen romanistik namentlich die auf litterarischem gebiet. –– Ob übrigens aus der nachfolgerschaft Ives noch etwas wird?1 Ich fürchte sehr, sie ist dem ersparungskomissär zum opfer gefallen.
Bei der abfassung meiner kleinen schrift2 war ich mir dessen bewusst, dass ich Sie weder den idealisten noch den positivisten ohne weiteres zuzurechnen hätte; es kam mir vielmehr darauf an, zu zeigen, inwiefern Ihre gedanken vielfach erst heute zur wirkung gelangen, wieviele davon sich mit der Vosslerschen richtung berühren.
Was die frage des sprachursprungs betrifft, so muss durch eine stelle meiner letzten karte ein missverständnis entstanden sein, denn ich stehe nach wie vor auf Ihrer seite, indem ich an dem mitteilungszweck der sprache festhalten zu müssen glaube. Ich hatte jedoch bemerkt, dass Lerch in seiner besprechung, dies als einen rückfall in den positivismus getadelt hatte.3 Zu dieser äusserung konnte Lerch nur kommen, indem er sich die Croce-Vosslersche definition sprache = geistiger ausdruck = kunst zu eigen gemacht hatte. Und in der tat berührt auch Vossler in der seiner besprechung meines büchleins in der Deutschen Literaturzeitung vom 25. November diesen punkt. Vossler findet, dass ich streckenweise zu sehr in das Fahrwasser von Bergsons sprachphilosophie geraten bin, der den intuitiven charakter der sprache unterschätze und sie intellektualisiere. Dagegen äussert sich Vossler: ... “und ruht das wesen der wörter nicht im begrifflichen, sondern im anschaulichen denken.” Es ist dies der punkt, über den ich mich schon in meiner schrift (z.b. seite 36 ff.) mit Vossler auseinander zu setzen versucht habe. Auf meiner letzten karte an Sie habe ich mich nun Lerch gegenüber auf einen Satz Ihrer “Sprachlichen Beziehung” berufen: “Der mensch schafft sich den eigenen, ihm angeborenen ausdruckslaut zum mitteilungslaut um.” In diesem satz schien mir die möglichkeit einer vermittlung zwischen Lerch und mir zu liegen, insofern nämlich als die angeborene ausdrucksgebärde, oder die reflexbewegung, die irgend eine empfindung oder wahrnehmung des urmenschen begleitete, zunächst noch frei gewesen sein konnte von dem mitteilungszweck. Sobald aber der mitteilungszweck sich hinzugesellt, haben wir es schon mit “sprache” im eigentlichen sinne des wortes zu tun. Ich sah übrigens auch seinerzeit schon den unterschied zwischen der auffassung Vosslers und der meinigen mehr in der beiderseitigen definition des wortes “sprache”. Wenn Vossler schon die innere anschauung als solche, noch bevor sie ausdrucksform erhalten hat, sprache nennt, so lässt sich darüber mit ihm nicht rechten.
Ich stelle mir den urmenschen als eine art höheres tier, ausschliesslich noch vom instinkt geleitet vor. Durch die notwendigkeit der mitteilung erst hat sich bei ihm der intellekt entwickelt. Indem zunächst rein zufällig irgend eine ausdrucksbewegung, ein ausdruckslaut, zum hinweis auf irgend |2| einen erlebten vorgang (z. b. eine wahrnehmung) diente und in derselben gemeinschaft bei wiedereintritt desselben (oder richtiger eines ähnlichen) vorgangs wiederholt wurde, entstand eine assoziation zwischen dem ausdruckslaut und dem vorgang. Dadurch aber wurden zugleich 2 oder mehrere in wirklichkeit nicht identische sondern bloss ähnliche vorgänge durch ein gemeinsames zeichen zusammengefasst und so eine erste abstraktion vollzogen. Sehr wichtig erscheint mir eben, dass mit dem sprechen zugleich sich das abstraktionsvermögen, der intellekt, entwickelt, dass mit den sprachlichen zeichen durch fortlaufende abstraktionen zugleich die begriffe entstehen. Von dieser seite, von dem standpunkt des mitteilungszwecks, gesehen, ergibt sich die intellektuelle natur der sprache. Dadurch soll aber nicht verkannt werden, dass die notwendigkeit, intuitionen zum ausdruck zu bringen, das scheinbar feste assoziationsverhältnis zwischen begriff und zeichen immer wieder verschiebt, den wert der zeichen verändert. In diesem sinne habe ich die entwicklung der sprache aus dem widerspiel zwischen intellekt und intuition erklärt. Die intuition muss, um mitteilung zu werdeen, ihres inneren zusammenhangs entkleidet und in die von vornherein durch die konvention gegebenen einheiten der sprachlichen ausdrucksform gepresst werden. Rein und in ihrem zusammenhang kann sie nur die musik wiedergeben, der die begriffliche gliederung fehlt. Insofern glaube ich gern, dass sich der urmensch auch des gesangs als ausdrucksmittel bedient habe. –– Uebrigens hoffe ich auf einige einschlägige fragen nächstens noch einmal zurückkommen zu können.
Mit den aufrichtigen wünschen für das Neue Jahr in verehrung Ihr sehr ergebener
FriedSchürr
1 Antonio Ive war Professor in Graz, Nachfolger Schuchardts. Schürr bemühte sich jahrelang u.a. auf diese Stelle und erhielt sie 1926, nicht ohne Zutun Schuchardts, als Extraordinariat. Im Verlauf des Briefwechsels taucht diese Stelle immer wieder auf.
3 Vgl. das vorhergehende Schreiben.