Wilhelm Wundt an Hugo Schuchardt (5-12898)
von Wilhelm Wundt
an Hugo Schuchardt
03. 04. 1886
Deutsch
Schlagwörter: Junggrammatiker Wissenschaftstheoretische Reflexion Logik (Wundt) Psychologie Literaturhinweise / bibliographische Angaben Bedeutungswandel Reflexion über Korrespondenz Biographisches Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze Wundt, Wilhelm (1893) Wundt, Wilhelm (1894) Wundt, Wilhelm (1895) Wundt, Wilhelm (1880) Staude, Otto (1883)
Zitiervorschlag: Wilhelm Wundt an Hugo Schuchardt (5-12898). Leipzig, 03. 04. 1886. Hrsg. von Johannes Mücke und Katrin Purgay (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2695, abgerufen am 03. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2695.
Leipzig 3. April 1886.
Hochgeehrter Herr College!
Es hat mich gefreut, aus Ihrem Briefe zu sehen, daß Sie mit meinenAuseinandersetzungen im allgemeinen einverstanden sind. Wenn Sie übrigens annehmen,daß ich bestrebt gewesen sei, Jedem ein wenig Unrecht zu geben, so kann ichversichern, daß dies mindestens nicht in bewusster Absicht geschehen ist. Ich binwirklich in dieser Frage absolut neutral. Die Entstehungsgeschichte des Streits zubesprechen, lag aber nicht in meiner Absicht. Wie wann und ob mit Recht oder Unrechtderselbe also angefangen worden sei, stand für mich außer Frage: ich nahm die Sacheso, wie sie eben jetzt liegt. Wie wenig man übrigens in solchen Dingen ein Wort sagenkann, ohne sofort für Partei |2| zu gelten, entnehme ichdaraus, daß von meinen hiesigen philologischen Freunden Einer gemeint hat, meinAufsatz sei gegen die Junggrammatiker undein Anderer, er sei für dieselben; beidesind übrigens am Streit unbeteiligt.
Was Ihre Frage nach einer 2ten Auflage meiner Logik betrifft, so ist von einersolchen noch nicht die Rede. Es wird also jedenfalls bis zu einer solchen nochmehrere Jahre dauern.1 Eine Darstellung derAssociationen, speciell mit Rücksicht auf sprachliche Verhältnisse, findet sich imersten Bande derselben.2 Einen zur Orientierung über das hierwichtige Verhältniß der Apperception zur Association u. dergl., wie ich glaube, sehrnützlichen Aufsatz enthält der erste Band der philosophischen Studien. Verfasser istDr. Otto Staude, der Titel: „der Begriff der Apperception in der neuerenPsychologie.“3
|3|Besten Dank für Ihre Notiz über den Begriffswandel des „honnête homme“. Daß dieBenennung der einzelnen Tugenden vor demAllgemeinbegriff Tugend nur ein Spezialfall des allgemeinen Gesetzes sei, daß dieSprache stets die Bezeichnungen für das Concrete zuerst bildet, ist auch meineMeinung. In diesem Fall ereignet sich der Vorgang wohl sogar auf einer höheren Stufeder Entwicklung, da schon die Begriffe der Einzeltugenden abstracterer Art sind, sodaß dieselben wenigstens ursprünglich eine sinnlichere Bedeutung besitzen, auch wenndie entsprechenden Worte schon existiren.
Den Gebrauch der Schreibmaschine habe ich mir vor einem Jahr in Folge einesAugenleidens angewöhnt, das jetzt aber so weit gehoben ist, daß es mich nicht mehrviel stört. Ich bitte also die Drucktypen, wenn |4| sie Ihnenwieder zu Gesichte kommen sollten, nicht als ein Zeichen großer Anstrengung vonmeiner Seite anzusehen. Im Gegentheil, ich schreibe mir der Maschine meistens ebensoschnell wie mit der Feder und hoffe dadruch außerdem meinen Correspondenten die Mühemeiner nicht sehr leserlichen Handschrift zu ersparen.
Mit den bestenGrüßen
Ihr
hochachtungsvollergebenster
W. Wundt.
1 Tatsächlich erschiendie zweite Auflage in drei Teilen erst einige Jahre später (vgl. Wundt 1893,1894, 1895).Ein Exemplar der zweiten Auflage in der Fachbibliothek Mathematik der UniversitätGraz [Signatur 97:W965] trägt Schuchardts Exlibris.
3 Gemeint ist Staude(1883). Otto Staude (1857-1928) war eine deutscher Mathematiker, Professorfür angewandte Mathematik in Dorpat 1886-1888,danach in Breslau.