Wilhelm Wundt an Hugo Schuchardt (1-12896)
von Wilhelm Wundt
an Hugo Schuchardt
12. 12. 1885
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Junggrammatiker Lautgesetze Lautwandel Analogie (Sprachwandel) Reflexion über Philologiebegriff Psychologie Logik (Wundt) Wissenschaftstheoretische Reflexion Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze Schuchardt, Hugo (1885) Curtius, Georg (1885) Ziagos, Sandra (2010) Wundt, Wilhelm (1883)
Zitiervorschlag: Wilhelm Wundt an Hugo Schuchardt (1-12896). Leipzig, 12. 12. 1885. Hrsg. von Johannes Mücke und Katrin Purgay (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2679, abgerufen am 08. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2679.
leipzig, 12. dec. 85
hochgeeh[r]ter herr college!
herzlichen dank für die freundliche zusendung ihrer streitschrift gegen diejunggrammatiker!1 ich habe dieselbe mit grossem interesse und, wieich hoffe, mit belehrendem erfolge gelesen. es ist mir durch ihre schrift noch klarergeworden was ich schon gelegentlich der letzten schrift von curtius2 und in mündlich[en] unterhaltungen mit demselbenbemerkt zu haben glaubte: dass es sich doch eigentlich in dem ganzen streit mehr umeine wort- als um eine sachliche differenzhandelt. wenn man das wort lautgesetz soweit nimmt, dass dasselbe alle bedingungenumfasst, die auf den lautwandel eingewirkt haben, dann ist die ausnahmslosigkeit derlautgesetze gleichbedeutend mit dem satz, dass jeder lautwandel seine, erkennbarenoder unerkennbaren, ursachen hat, und diesem wird, so viel ich sehen kann, vonniemanden widersprochen. der wesentliche unterschied der junggrammatiker von ihrengegnern scheint mir darum auch nicht hierin zu liegen, sondern in der behauptung,dass alle scheinbaren ausnahmen von den lautgesetzen durch die s.g. analogie zuerklären seien. diese frage wird natürlich nur durch die erfahrung zu entscheidensein. ich glaube meinerseits, dass den individuellen einwirkungen, auf welche siehinweisen hier, wie bei allen geistigen schöpfungen, ein grosser spielraumeingeräum[t] werden muss. sie werden aber freilich möglicher |2| weise wieder in solche zerfallen, bei denen die individuen durch analogie, und insolche, bei denen sie durch andere ursachen bestimmt worden sind. das analogieprinciphat hier die missliche eigenschaft, dass es ungemein dehnbar ist, so dass der recursauf zweifelhafte oder unentdeckte analogien immer offen steht. darum ist, wie ichfürchte, eine beseitigung diesesstreitpunktes weniger schnell zu hoffen, also die über die 'ausnahmslosigkeit' derlautgesetze.
in den kurzen bemerkungen in meiner logik3 scheinen sieäusserungen als widersprechend angesehen zu haben, die dies doch wohl nur, vielleichtweil der ausdruck mangelhaft ist, so scheinen. wenn bei den gewöhnlichen lautgesetzendirect physiologische, bei denanalogiebildungen psychologische bedingungen wirksam sind, so schliesst dies nichtaus, dass die entfernteren ursachen der ersteren ebenfalls psychologischer art sind.das so oft hier herbeigezogene princip der 'bequemlichkeit' würde ja z.b. eine solchepsychologische ursache sein, bei der dann aber doch die art der wirkung ganz vonphysischen bedingungen abhängt und daher auch mit diesen eventuell va[r]iirenkann.
ihren schlussbemerkungen über die philologie stimme ich ganz bei.4 gleichwohl werden, wie ich vermuthe, sprach- undsonstige forscher aus praktischen gründen noch für längere zeit zu den phi[lo]logengezähl[t] werden wollen.
mit besten grüssen und nochmaligem dank
Ihr ganz ergebener
W. Wundt.
1 Es handelt sich umSchuchardt(1885).
2 Die Kontroverse um die Ausnahmslosigkeit derLautgesetze zwischen Junggrammatikern und Kritiker, die 1885 ihren Höhepunkterfuhr, wurde vom Altphilogen Georg Curtius(1820-1885) in Zur Kritik derneuestes Sprachforschung (Curtius1885) eingeleitet. Curtius verstarb jedoch im Sommer des Jahres.Vgl. dazu auch den Briefwechsel zwischen Schuchardt und Curtius in Ziagos(2015).
3 Wundt(1883). Schuchardt(1885) bezieht sich auf den zweiten Band der 1. Auflage, dieMethodenlehre.
4 Vgl. Schuchardt (1885:36-39).