Hugo Schuchardt an Ernst Robert Curtius (02-S_2614)
von Hugo Schuchardt
02. 12. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Verlagsbuchhandlung Leuschner & Lubensky Scientia Spitzer, Leo (1910) Spitzer, Leo (1918) Schuchardt, Hugo (1918) Spitzer, Leo (1922) Spitzer, Leo (1928)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Ernst Robert Curtius (02-S_2614). Graz, 02. 12. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2621, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2621.
Graz, 2 Dez. ’23
Villa Malwine
Sehr geehrter Herr Kollege,
ich beeile mich, obwohl einigermaßen unpäßlich, auf Ihre Anfrage in dem gestern Abend erhaltenen Brief zu antworten.
L. Spitzers wissenschaftliche Bedeutung schlage ich hoch an, mag ich ihn als Sammelnden oder Ordnenden, als Kritiker oder Forscher betrachten. Immer wird er angeregt und immer regt er an; vielleicht macht man ihm den Vorwurf daß er aus seinen Lehrjahren (von 1910 stammt seine erste größere Arbeit zu Rabelais)1 nie in die ruhigen Meisterjahre kommt. Ebenso un|2|berechtigt würde es mir vorkommen, wollte man aus seiner allerdings erstaunlichen Produktivität für ihn die Bezeichnung eines Vielschreibers ableiten. Alle seine Arbeiten die sich über so vielerlei erstrecken Syntax, Stilistik, Etymologie, Sach- und Wortforschung usw. und über so viele Sprachen, sind durch feste Fäden miteinander verbunden und überall erweist er sich als selbständiger Denker, reich an feinen Beobachtungen und scharfen Erwägungen. Natürlich kann es nicht fehlen, daß manche seiner Ansichten Widerspruch erregen, auch bei mir (z.B. wegen Anti-Chamberlain),2 aber man möge mir anderseits glauben |3| wenn ich beteure daß mein günstiges Urteil über Sp. nich[t] dadurch bestimmt worden ist daß er das Schuchardt-Brevier - ohne Anregung meinerseits - verfaßt hat.3 Doch gestehe ich gern ein daß das überhaupt ihm eigene Talent sich in die Gedankgengänge Anderer einzufühlen mich hier, wo ich das besser feststellen kann, als irgendwer, geradezu überrascht hat.
Da Sie bei mir nur der wissenschaftlichen Bedeutung Sp.s nachfragen aber doch zugleich den Zweck dieser Frage andeuteten, so halte ich einen Zusatz für angezeigt: Nämlich daß mein Urteil ganz und gar hinfällig wird, sowald ein unwissenschaftlicher Einwand dagegen erhoben wird und zwar der, Spitzer sei ein Jude. Ich meinerseits habe darauf nichts zu erwidern als daß es eine Sünde gegen die Wissenschaft |4| ist, wenn man einen jüngeren Mann der für sie begeistert und in einem so hervorragenden Maße für sie tätig ist, geradezu lahm legt. Denn das tut man; bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage kann er auch als Privatgelehrter nicht wirken. Ganz abgesehen von der persönlichen Ungerechtigkeit. Möglich daß Sp. in früheren Jahren eine und die andere politisch verfängliche Äußerung getan hat – mir ist nichts derlei gegenwärtig; aber heutzutage denk ich daß er sich als so guten Deutschen zeigt wie einer (Sie haben doch gewiß im Ltbl. seine Anzeige von Meillets Scientia-aufsatz gelesen?).4
Mit verbindlichem Gruß
Ihr ganz ergebener
HSchuchardt
1 Es handelt sich dabei um die Veröffentlichung von Spitzers 1910 an der Universität Wien eingereichte Dissertation. (Spitzer 1910).
2 Spitzer (1918). Dieses Bändchen spielte in der Beziehung zwischen Schuchardt und Spitzer eine unerfreuliche Rolle. Zuerst ist es nicht ganz verständlich, warum Spitzer gerade dieses Buch Hugo Schuchardt widmen wollte und auch gewidmet hat, denn die Stellung der beiden zum 1. Weltkrieg und die dahinterstehenden Ideologien war sehr unterschiedlich. Schuchardt hat dieses Büchlein im Literaturblatt allerdings sehr ausführlich und facettenreich, kritisch aber durchaus auch sehr positiv rezensiert ( Schuchardt 1918 [= Brevier/Archiv Nr. 708.]. Spitzer wollte dieses Buch ursprünglich in Graz bei Leuschner-Lubensky veröffentlichen, was Schuchardt aber offenbar verhindert hat. Grund dafür scheint die dann auch in der Rezension noch erwähnte, von Schuchardt kritisierte Erwähnung F. W. Försters durch Spitzer gewesen zu sein. Wie tief verletzt Spitzer von diesem Verhalten Schuchardts war, manifestiert sich in einem späten Brief, in dem Spitzer Schuchardt eine Serie von Kränkungen über die Jahre hinweg aufzählt (Spitzer an Schuchardt vom 24. Feber 1926, hier Lfd. Nr. 434-11188) und dabei auch die Entstehungsgeschichte dieses Buches erwähnt.
4 Antoine Meillet veröffentlicht 1923 in der italienischen Zeitschrift Scientia einen kurzen Überblicksartikel zur Bedeutung der deitschsprachigen historischen Sprachwissenschaft für die intrnationale Forschung des 19. Jahrhunderts, sowie über die gegen Ende des Jahrhunderts einsetzende Internationaliserung der Disziplin und die damit einhergehende Veränderung des wissenschaftlichen Paradigmas. Spitzer (1923) antwortet unmittelbar im gleichen Jahr mit einer Rezension im Literaturblatt. Darin unterstreicht er erstens die Rolle der deutschsprachigen Sprachwissenschaft auch in diesem Prozeß der Internationalisierung und verstärkt, gegenüber Meillet, die Rolle und Bedeutung Hugo Schuchardts.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Dezernat 5 / Abt. Handschriften und Rara, NL E.R. Curtius (S 2614). (Sig. S_2614)