Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (9-06454)

von Ernst Lewy

an Hugo Schuchardt

Wechterswinkel, Unterfranken

12. 09. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Dankschreiben Biographisches Österreichische Akademie der Wissenschaften (Wien) Sprachursprung Typologie und Sprachverwandtschaft Sprachen in Afrika Spinnrocken Spracherwerb Félibres Bibelübersetzungen Publikationsversand an Dritte Bittschreiben Publikationsversandlanguage Erzyalanguage Indoeuropäische Sprachenlanguage Russischlanguage Baskischlanguage Marilanguage Deutsch Lach, Robert Reinisch, Leo Rollo, William Lach, Robert (1933) Reinisch, Leo (1873) Schuchardt, Hugo (1926) Lewy, Ernst (1925) Lewy, Ernst (1931) Lewy, Ernst (1934) Lewy, Ernst (1958) Schuchardt, Hugo (1922) Rollo, William (1925) Gèze, Louis (1873) Lewy, Ernst (1926)

Zitiervorschlag: Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (9-06454). Wechterswinkel, Unterfranken, 12. 09. 1926. Hrsg. von Petra Hödl (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2585, abgerufen am 03. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2585.

Printedition: Hödl, Petra (2015): "Dass es in der Sprachwissenschaft kriselt, freut mich." Die Briefe von Ernst Lewy an Hugo Schuchardt. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 267-321.


|1|

Sehr verehrter Herr Professor!

Entschuldigen Sie gütigst, dass ich nicht eher geantwortet und gedankt. Ich habe in Berlin überhaupt kein richtiges Leben und bin dann auch in den Ferien gehetzt. Zudem musste ich grade für die Wiener Akademie eine schwierige Arbeit machen: Entzifferung und Übersetzung (soweit mir möglich, natürlich nur) mordwinischer Liedtexte1, die ein Herr R. Lach2 gesammelt hatte d.h. sich hatte aufschreiben lassen. Übrigens hatte ich als Gegengabe von der Wiener Akademie auch mir noch fremde Schriften von Leo Reinisch erbeten und erhalten. Da sah ich, was ich schändlicher Weise noch nicht wusste, dass Reinisch die Verwandtschaft der idg. Sprachen in Afrika suchte.3 Zu meiner grossen Freude; denn ich tue es auch.

Über ein kleines, bestimmt von mir verschuldetes Unverständnis brauche ich wohl nicht zu sprechen. Aus Ihrem Aufsatz über Sprachverwandtschaft4 möchte ich als für mich hilfreich besonders die Formulierung: Monogenese und Polygenese der Sprachen bilden keine Alternative (S. 149 letzte Zeile des Texts)5 hervorheben. Zum Hinblick auf S. 151 (Ende des 2. Abschnittes6) möchte ich sagen, dass jede Sprache eine Durcheinanderschiebung von mehreren Systemen ist (wie ich es ja in meiner Darstellung des Russischen7 praktisch zu demonstrieren mich bemühte).

Ich darf ja mich noch nicht mit zuviel Äusserungen über Theorien aufhalten; sondern muss Material sammeln. Besonders hat es mir das Baskische angetan8; das nicht nur überhaupt als typische Sprache so ungeheuer wichtig ist, sondern auch, weil es entscheidend auf die Theorie der grössten deutschen Sprachforscher gewirkt hat. Nun erlaube ich mir |2| eine Frage, mit deren Beantwortung Sie mir die Gestaltung gewisser Pläne sehr erleichtern würden: wo würden Sie das praktische Studium des Baskischen für besonders empfehlenswert halten? Im französischen? Wohl eher im spanischen Baskenlande? Und würden Sie mir etwa sonst noch Ratschläge oder Empfehlungen auch in bestimmter Richtung geben können und mögen?

Im engen Zusammenhange mit dieser Frage steht die: könnte ich – von Ihnen? – die Fortsetzung des in Ihrem “Zur Kenntnis des Baskischen von Sara ...“9 S. 29- abgedruckten Märchenstückes (Übersetzung natürlich auch noch erwünscht) vom König Salomo bekommen? Die Hilfsmittel zum Baskischen sind ja wirklich schwer zu kriegen: einfache volkstümliche Originaltexte – wo giebt’s die? Die Arbeit von W. Rollo10 – ich habe an den Verfasser nach Südafrika geschrieben; in Europa ist sie nicht zu finden. Und selbst eine Souletinische Bibel kann ich nicht kriegen; sie würde so gut zu Gèze11 passen.

Entschuldigen Sie gütigst, dass ich Sie so mit Fragen behellige, und dass ich 2 sehr unwichtige Blättchen beilege.12 An meinen “Tscheremissischen Texten“13 dürfte Ihnen wohl nicht gelegen sein?

Mit hochachtungsvollen und herzlichen Grüssen

Ihr verehrungsvoll ergebener

E. Lewy.
Wechterswinkel (Unterfranken)
12.9.26.

Noch eine Bitte erlaube ich mir: ich erlaubte mir “Den Individualismus in der Sprachforschung“ (W.S.B. 204.2) meinem liebwerten Nachbarn Willy Bang zu leihen, der diese Schrift mit Entzücken las und mich bat, wenn ich wieder einmal an den Verfasser schreibe, auch um ein Exemplar für ihn zu bitten. Bang ist z. Z. krank (Darmstadt, Riedeselstr. 27); es würde ihn gewiss sehr erfreuen. Möglicherweise habe ich aber seine Bitte schon abgeladen; mein Gedächtnis ist – ich immer auf der Walze – etwas ermüdet. Nochmals grüssend.


1 Lach (1933). Gesänge russischer Kriegsgefangener. Bd. 1: Finnisch-ugrische Völker, Abt. 2: Mordwinische Gesänge. Die Transkription sowie die Übersetzung der mordwinischen Texte stammen von Lewy.

2 Robert Lach (1874-1958), österreichischer Musikwissenschafter, Dichter und Komponist.

3 Vgl. dazu Reinisch (1873). Der einheitliche Ursprung der Sprachen der alten Welt, nachge­wiesen durch Vergleichung der afrikanischen, erythräischen und indogermanischen Sprachen, mit Zugrundelegung des Teda.

4 Schuchardt (1926). Sprachverwandtschaft II.

5 Vgl. Schuchardt (1926: 2 [Seitenzählung nach dem Sonderdruck]). Lewy zitiert im Brief Schuchardt nicht wörtlich, sondern schreibt Sprachen.

6 „Eine Sprache stellt weder nach außen noch nach innen eine vollkommene Einheit dar, sie ist weder ein Organismus mit integrierenden Elementen, noch ein System, aus menschli­chem Plane aufgebaut“ ( Schuchardt 1926: 4 [Seitenzählung nach dem Sonderdruck]).

7 Lewy (1925a). Betrachtung des Russischen. Lewy möchte hier zeigen, dass das Russische als indogermanische Sprache viele Merkmale des Finno-Ugrischen aufweist.

8 Lewy hat sich später recht intensiv mit dem Baskischen auseinandergesetzt und dazu auch publiziert, vgl. z.B. Skizze einer elementaren Syntax des Baskischen (1931), Zu Dechepare (1934) oder auch Subjekt und Objekt (1958), hier mit direktem Bezug auf Schuchardt.

9 Schuchardt (1922c). Zur Kenntnis des Baskischen von Sara (Labourd).

10 William Rollo (1892-1960), aus England stammender Sprachwissenschafter, Schüler Uhlenbecks, 1925 nach Südafrika ausgewanderte. Lewy meint wohl dessen Dissertation The Basque Dialect of Marquina (1925).

11 Gemeint ist wohl Gèze (1873). Éléments de Grammaire Basque: Dialecte Souletin suivis d'un vocabulaire basque-français & français-basque.

12 Welche Arbeiten hier gemeint sind, ließ sich leider nicht feststellen.

13 Lewy (1926). Tscheremissische Texte I: Text. II: Übersetzung.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 06454)