Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (7-06452)
von Ernst Lewy
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
13. 08. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Typologie Typologie und Sprachverwandtschaft Sprachwissenschaft (Reflexion) Reflexion über Philologiebegriff Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java... (Humboldt 1936) Biographisches Englischbasierte Kreolsprachen (Surinam) Finnisch-ugrische Sprachen Sweet, Henry Vossler, Karl Schuchardt, Hugo (1923) Spengler, Oswald (1922) Schuchardt, Hugo (1864) Keyserling, Hermann (1919) Schuchardt, Hugo (1920) Finck, Franz Nikolaus (1910) Sweet, Henry (1890) Humboldt, Wilhelm (1836) Brøndal, Rasmus Viggo (1917)
Zitiervorschlag: Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (7-06452). Unbekannt, 13. 08. 1923. Hrsg. von Petra Hödl (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2583, abgerufen am 14. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2583.
Printedition: Hödl, Petra (2015): "Dass es in der Sprachwissenschaft kriselt, freut mich." Die Briefe von Ernst Lewy an Hugo Schuchardt. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 267-321.
Sehr verehrter Herr Professor!
Für Ihren ‘Individualismus’1 möchte ich Ihnen ganz besonders herzlich danken. Mir tat das Gedenken an und für sich sehr wohl; dann aber haben mich viele Bemerkungen darin gradezu erfreut. Getroffen hat mich die Sendung in Berlin, wo das Leben nicht so einfach ist, doch davon nachher. – Den Wiederspruch zwischen Generellem und Individuellem2 sehe ich nicht so recht: weil ich sehe, dass die die Sprache sprechenden, überliefernden, zeugenden sogenannten Individuen verhältnismässig gleichartig ein Genus sind. Noch in einem anderen Punkte schlage ich den Mittelweg ein, oder vielleicht richtiger sehe ich die Gegensätze zusammen. S. 3: AUSDRUCK oder MITTEILUNG?3 Ich: AUSDRUCK UND MITTEILUNG! Mir kommt es fast vor, als wenn damit der Streit sozusagen geschlichtet wäre, es bleibt nur noch eine glatte Formel zu finden. Eine Sache kann gut ZWEI Seiten haben, meine ich. –
Ueberaus freute mich unten S. 3: Dürften wir die Uebertragung des Geistigen ...4 das ist der Grund, dass ein wahrer Sprachforscher niemals in Pessimismus und Nationalismus versinken kann (neben der wunderbaren und geistreichen Mannigfaltigkeit des Sprachenbaus). Dem blöden Schwätzer (S. 6 Z. 14)5 wird durch Zitierung zuviel Ehre erwiesen. Das Geschichtlich-Persönliche ist alles – ja, mir fehlt ein Wort, zu loben hab ich wirklich kein Recht – und ich suchte ein charakterisierendes und nicht lobendes Wort. Also: schön; aber ganz wichtig war mir, dass auch (S. 7)6 ein moralischer Antrieb es war, der sie zu Ihrer ersten Arbeit trieb. So soll es, müsste es immer sein, wenn etwas werden soll; aber wann ist es so? wo? – Die Anmerkung auf S. 77 berührt ja das letzte moralische Problem: wieso ist der Mensch (nebbig8; ich bitte um Vergebung!) manchmal im Stande sich an seiner eigenen Nase, am eignen Zopfe aus dem Dreck rauszuziehen? Doch das ist wirklich ein zu weites Feld. – Ich las neben Finno-ugrischem auch über die Typenlehre nach Fincks Buche, und muss doch sagen, trotz der zahlreichen Einwände (ich fand auch die von Ihnen zitierte Stelle9, die ich F. nicht zugetraut hätte, vom Stammeln wieder, die sicher ganz verfehlt ist; mAn10 beruht der Hauptfehler F.s darin, dass er meint, der Mensch denkt beim Sprechen. Finck tat das, aber der bei weitem grösste Teil der Sprache weiter leitenden Menschheit tut das nicht): wenige Bücher auf unserem Gebiete sind so reich und durchdacht, in allem Detail lebendig; sehr vermisste ich eine wirkliche Behandlung der wichtigsten grammatischen Kategorieen, die sich frei hält von dem nicht wissbaren, und bescheiden genug ist, Tatsachen anzufahren und auch nicht zu deuten. Das Verbum, das Objektverhältnis. Heute las ich wieder einmal Sweet11: I am – still unable to decide which method is preferable.12 So was tut wohl, die Päpste, Brugmanns und Consorten wissen immer, was richtig ist, und wenn sie sich nach 8 Tagen zurücknehmen müssen. Und die Philologie? Es macht mir Spass, wenn auch heute würdige Jünglinge das Wort Philologie als Kinderschreck gebrauchen. Mit Wehmut aber erfüllt mich, wenn ich heute die Ausdruckslinguistik im Schwunge seh, und den ersten13, der bei uns das Wort prägnant anwandte, vergessen werdend. Doch die Zeit wird entscheiden, ob er oder Vossler der weiterführende war.
Nocheinmal meinen herzlichsten Dank! und die besten Wünsche für einen schönen Sommer. Wie gern würde ich wieder einmal über Graz Ungarn aufsuchen, trotz der Tollheiten, die alle begehen, lockt der Most im Ofen14 im Herbst. Aber Reisen?! In kurzem hoffe ich Ihnen wieder eine kleine Arbeit überreichen zu können. Wie mag V. Brøndal15, Laan og Substrat16 auf Sie gewirkt haben?!
Mit verehrungsvoller Empfehlung
Ihr ergebener
Ernst Lewy.
1 Schuchardt (1923). Individualismus.
2 Vgl. Schuchardt (1923: 1).
3 Schuchardt definiert Sprache als Mitteilung, Vossler hingegen als Ausdruck. Zu diesen gegenteiligen Ansicht meint Schuchardt: „Ich bekämpfe seine [Vosslers] Auffasung nicht; ich begnüge mich damit die meinige zu verteidigen, die die Sprache als Mitteilung definiert. Beides braucht sich nicht zu widersprechen, wir sehen eben die Sache von zwei verschiedenen Seiten an; ja beides läßt sich miteinander vereinigen. Auch für mich geht der Mitteilung der Ausdruck voraus und begleitet sie weiterhin; aber ich rede von Sprache erst dann, wenn Mitteilung vorhanden ist“ (Schuchardt 1923: 3).
4 Vgl. Schuchardt (1923: 3).
5 Schuchardt (1923: 6) zitiert den Philosophen Oswald Spengler aus dessen Untergang des Abendlandes (1922).
6 Schuchardt berichtet hier, wie es zu seiner Dissertation Der Vokalismus des Vulgärlateins (1864) kam. Das Thema war ihm nicht von seinem Betreuer Friedrich Ritschl vorgegeben worden, sondern die Idee entstand bei einem Ausflug nach Trier, wo er auf altchristliche Grabsteine stieß und dabei von einer „Art Mitleid mit dem Armeleute-Latein“ ergriffen wurde (vgl. Schuchardt 1923: 7).
7 Schuchardt zitiert dort aus dem Reisetagebuch des Grafen Hermann Keyserling (1919), der in Bezug auf die altindische Philosophie meint: „‚lieber seinem eigenen, noch so niedrigen Dharma folgen, als dem noch so erlauchten eines andern’; das heißt: ‚jedes Wesen soll einzig und allein nach seiner spezifischen Vollkommenheit streben, in welcher Richtung diese immer liege’“ (Schuchardt 1923: 7, Anm. 1).
8 nebbig „leider“.
9 In Sprachursprung III weist Schuchardt auf die Probleme hin, die sich bei Übersetzungen fremder Sprachbeispielen durch die Verwendung des deutschen Infinitivs für die unflektierte, endungslose Form der zu untersuchenden Sprache ergeben. Dieser Usus würde zu zahlreichen Missverständnissen und Verwechslungen führen, vgl. Schuchardt (1920: 449, Anm. 1). Schuchardt bezieht sich hier auf eine Äußerung Fincks (1909), die dieser bei seinen Erläuterungen zum Chinesischen tätigt. Er beschreibt dort, dass die chinesischen Ausdrücke wōˑo̯. 3 (für die 1. Person Singular) und t‘ā1 (für die 3. Person Singular) je nach Wortstellung entweder das Subjekt oder das Objekt des Satzes bezeichnen und „[...] daß eine darauf bezügliche Kennzeichnung des Wortes selbst nach Art unseres ‚ich/mich’ beziehungsweise ‚er/ihn’ aber fehlt, daß mithin selbst ein Gestammel wie ‚ich nicht fürchten ihn’ schon mehr in das chinesische ‚wōˑo̯.3 pū2 p’ā 4 t‘ā1’ hineingeheimnißt als berechtigt ist“ (Finck 1909: 15).
10 meiner Ansicht nach.
11 Henry Sweet (1845-1912), englischer Sprachwissenschafter, gilt als einer der Begründer der Phonetik.
12 Das Zitat stammt aus Sweets Primer of spoken English (1890). Im Vorwort schreibt er: „I have also made the experiment of substituting word- for the stress-division of the Elementarbuch. I am still unable to decide which method is preferable” (Sweet 1890: X).
13 Lewy meint wohl Humboldt, der in der Einleitung seines Kawi-Werkes Sprache als „verschiedenartige Offenbarwerdung der menschlichen Geisteskraft“ bezeichnet (vgl. Humboldt 1836 [1968: XVII]) und betont, dass die „Hervorbringung der Sprache“ ein „inneres Bedürfniss der Menschheit“ sei, „nicht bloss ein äusserliches zur Unterhaltung gemeinschaftlichen Verkehrs, sondern ein in ihrer Natur liegendes, zur Entwickelung ihrer geistigen Kräfte und zur Gewinnung einer Weltanschauung, zu welcher der Mensch nur gelangen kann, indem er sein Denken an dem gemeinschaftlichen Denken mit Anderen zur Klarheit und Bestimmtheit bringt, unentbehrliches“ (Humboldt 1836 [1968: XXV-XXVI]). Vossler mit seiner Auffassung von Sprache als Ausdruck bezieht sich immer wieder auf Humboldt, so etwa im Vorwort zu seinem Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904).
14 Ofen ist die deutsche Bezeichnung für den rechts der Donau liegenden Stadtteil Budapests.
15 Rasmus Viggo Brøndal (1887-1942), dänischer Romanist und Sprachwissenschafter.
16 Brøndals Dissertation Substrater og Laan i Romansk og Germansk (1917).