Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (4-06450)

von Ernst Lewy

an Hugo Schuchardt

Wechterswinkel, Unterfranken

08. 11. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: Dankschreiben Rezension Biographisches Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Afrikanistik Sprachklassifikation Sprachverwandtschaft Sprachen in Afrikalanguage Nubische Sprachenlanguage Armenisch Winkler, Heinrich Finck, Franz Nikolaus Steinthal, Hajim Humboldt, Wilhelm von Gjandschezian, Agnes Schulze, Wilhelm Finck, Franz Nikolaus (1908) Schuchardt, Hugo (1912) Westermann, Diedrich (1911) Schuchardt, Hugo (1912) Meinhof, Carl (1912)

Zitiervorschlag: Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (4-06450). Wechterswinkel, Unterfranken, 08. 11. 1922. Hrsg. von Petra Hödl (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2580, abgerufen am 14. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2580.

Printedition: Hödl, Petra (2015): "Dass es in der Sprachwissenschaft kriselt, freut mich." Die Briefe von Ernst Lewy an Hugo Schuchardt. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 267-321.


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Sehr verehrter Herr Professor,

Für Ihre gütigen Zeilen möchte ich Ihnen nur herzlich danken; ein freundliches Wort von einem Veteranen tut dem Rekruten, wenn er auch noch so mutig ist, sehr wohl. In der Tat wird der Wunsch nach einer Besprechung mehr dem Verleger entstammen; ich weiss es wirklich nicht mehr; es sind ja so wenige da, die grammatische Arbeiten, und gar so fernen Gebietes, besprechen können. Wenn Ihnen meine Arbeiten etwas bieten, so freue ich mich darüber aufrichtig; ich glaube, dass ich meine in gewissem Sinne und bestimmter Richtung abweichende Grundanschauung nie verberge oder verhehle, dass ich ihr aber – wenigstens erstrebe ich das – keinen irgendwie entscheidenden Einfluss auf meine Darstellung einräume, wie es meine Vorfahren, Winkler und wohl auch manchmal Finck, sehr Steinthal (den ich deswegen meide), sehr wenig (oder gar nicht?) Humboldt, gegangen ist. –

Nun möchte ich mir aber noch eine Frage erlauben, die eine peinliche Sache betrifft, die wir aber schon einmal berührten. Ich hatte nämlich Gelegenheit mit der Schwester Finck’s, Frau Dr. Agnes Gjandschezian1, zu sprechen und habe ihr auch erzählt, dass das Gerücht von dem Selbstmorde ihres Bruders weit gedrungen ist. Sie selbst hat nun gewisse Verdachte auf den Ursprungsherd dieser – in jedem Falle unguten Nachrede. Ich erlaube mir nun in ihrem Auftrage bei Ihnen, verehrter Herr, anzufragen, ob Sie sich noch |2| nach so langen Jahren erinnern können, wem Sie die Nachricht über Finck’s derartiges Ende verdanken. Fr. Dr. Gjandschezian beabsichtigt natürlich keinerlei juristische Aktionen; aber sie möchte, wenn der Urheber (oder Verbreiter) jener Nachrede noch zu ermitteln ist, ihm in einem sachlich gehaltenen Briefe seine Schlechtigkeit vorhalten. Finck hatte Feinde, das weiss ich, obwohl er ein guter und hilfreicher Mensch war. Ihren Namen in den Verhandlungen einzuführen liegt selbstverständlich nicht der leiseste Grund vor. Übrigens hatte ich vor kurzem Gelegenheit mit Prof. W. Schulze in Berlin wieder einmal jene leidige und traurige Angelegenheit zu besprechen, der die völlige Schuldlosigkeit Finck’s und sein ungeheuer schmerzliches Misgeschick bestätigte, bes. als nächster Augenzeuge der Geschehnisse hervorhob, dass man daran wirklich sterben konnte, und die geistige Kraft, die Finck damals noch sein Bantu-Buch2 schreiben lies3. – Hierbei noch: ich las natürlich eifrig in den Bibliotheken in diesen Reisetagen und fand da auch in der WZKM4 zu meiner Freude Ihre und Reinisch’s 5 scharfe Opposition6 gegen die genealogischen Phantastereien der Meinhof7-Westermann’schen8 Afrikanistik. Da ich doch nicht Fachmann bin, konnte ich nicht allem nachkommen; hielt aber die Eingliederung des Nuba9 in das “Sudanische“10 für leere Spielerei. Es liesse sich hier noch viel sagen; doch will ich Ihnen nicht Zeit weiterhin rauben.

Mit den besten Grüssen

Ihr herzlich ergebener

Ernst Lewy.
Wechterswinkel (Unterfranken), 8. XI. 22.


1 Fincks Schwester war ebenfalls wissenschaftlich tätig und arbeitete zum Armenischen.

2 Finck (1908). Die Verwandtschaftsverhältnisse der Bantusprachen. Im Vorwort (datiert mit 3. Juli 1908) nimmt Finck indirekt auf die schwierige Situation, in der er sich befand, Bezug: „[…] und daß endlich der Druck außergewöhnlicher Verhältnisse der Leistungsfähigkeit des Arbeiters ein starkes Hemmnis entgegengestellt hat. Man könnte einwenden, daß es dann wohl besser gewesen sei zu warten, bis die jetzt unerreichbaren Hülfsmittel herbeigeschafft worden, bis andere, der Arbeit günstigere Lebensumstände eingetreten. Vielleicht würde man damit einen berechtigten Einwand erheben. Wenn ich jedoch in diesem Augenblicke des Abschlusses meiner Arbeit, am Tage nach einem für mich vielleicht folgenschweren Er­eignisse, in die Zukunft zu blicken versuche, auf Grund gesicherter Erfahrung abschätzend und erratend, dann scheints mir alles in allem doch besser zu sein, diese Schrift ihrer Un­voll­kommenheit zum Trotz ohne Zögern der Öffentlichkeit zu übergeben“ (Finck 1908: VI-VII).

3 sic.

4 Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes.

5 Leo Reinisch (1832-1919), österreichischer Ägyptologe und Afrikanist.

6 In der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 26/1912 findet sich sowohl Schuchardts Abhandlung Bari und Dinka (1912a) mit Bezug auf Westermanns Werk Die Sudansprachen (1911) als auch Schuchardts Rezension (1912b) von Meinhofs Die Sprachen der Hamiten (1912). In diesen Aufsätzen kritisiert Schuchardt die von den beiden Afrikanisten getroffenen Sprachgliederungen, v.a. auch die Verflechtung von linguistischen und anthro­pologischen Argumentationen (vgl. besonders Schuchardt 1912b)

7 Carl Friedrich Michael Meinhof (1857-1944), deutscher Afrikanist und Pastor.

8 Diedrich Hermann Westermann (1875-1956), deutscher Afrikanist und Missionar. Er und Meinhof waren damals die führenden Vertreter der deutschen Afrikanistik.

9 Nuba ist heute ein Sammelbegriff für etwa 40 verschiedene Bevölkerungsgruppen im Sudan, die unterschiedliche Sprachen sprechen. Der Terminus Nubisch bezieht sich in der modernen Literatur auf Sprachen des ostsudanischen Zweiges der nilosaharanischen Sprachfamilie.

10 Das Sudanische (oder: Sudansprachen ) ist ein heute veralteter Gliederungsbegriff in der Afrikanistik und bezog sich auf jene afrikanischen Sprachen, die weder über ein Genus­system noch über Nominalklassen verfügen. Die postulierte genetische Verwandt­schaft dieser Sprachen wurde jedoch widerlegt.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 06450)