Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (1-06446)
von Ernst Lewy
an Hugo Schuchardt
08. 08. 1921
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Indogermanische Forschungen Kasus (morphologisch) Numerus Wortarten Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung (Kuhns Zeitschrift) Keleti Szemle Sprachwissenschaft Bittschreiben grammatisches Geschlecht und Nominalklassen Publikationsvorhaben Altpreußische Sprache Latein Tscheremissisch Schuchardt, Hugo (1920) Lewy, Ernst (1913) Trautmann, Reinhold (1910) Hermann, Eduard (1916) Lewy, Ernst (1922) Schriefl, Karl (1912–1913)
Zitiervorschlag: Ernst Lewy an Hugo Schuchardt (1-06446). Wechterswinkel, Unterfranken, 08. 08. 1921. Hrsg. von Petra Hödl (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2577, abgerufen am 14. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2577.
Printedition: Hödl, Petra (2015): "Dass es in der Sprachwissenschaft kriselt, freut mich." Die Briefe von Ernst Lewy an Hugo Schuchardt. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 267-321.
Sehr geehrter Herr Professor,
Für die Gegengabe Ihrer Abhandlung ‘Sprachursprung’ III.1 erlaube ich mir nur zu danken, so vieles mich zur Weiterbesprechung reizen würde; aber ich glaube, dass ich Ihnen doch damit nur wenig neues sagen würde, da ich mich ja selbst noch durchaus in jener Periode fühle, in der es im allgemeinen besser ist, dem Rate des alten H. C. v. d. Gabelentz2 zu folgen und statt sprachwissenschaftlicher Theorie sich immer eine neue Sprache einzuvergeisten. Dass ich produktiv dann doch auch in der † Richtung sündige – ein doch begreiflicher Widerspruch.
Ich benutze aber diese Gelegenheit zu einer Frage, um deren Beantwortung ich Sie sehr bitte, wenn Ihnen irgendwie Zeit und Neigung es erlaubt. Ich hatte geäussert (IF. 32. 173-4)3, dass eine Sprache, wie das altpreussische eine sein soll, wo schliesslich der Gen. Sing. Fem. des Demonstrativpronomens stessias, stēisei und stēison lauten soll, meines Wissens nicht existiert. In den 7-8 Jahren, seit denen das gedruckt ist, hatte ich Gelegenheit eine ganze Menge Sprachen direkt zu beobachten; aber ich habe keine gefunden, in der es möglich ist, dass für eine Form zwei (oder gar drei) völlig verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten bestehen. Das fand ich freilich immer, dass im Satzzusammenhang gewisse Laute schwinden, und allenfalls noch, |2| dass einander sehr nahe stehende Laute unter einander schwanken, auch in Formen. Nun wurde ich jüngst von E. Hermann4 belehrt (KZ. 47)5, dass derartige Doppelformen im Lateinischen was ganz gewöhnliches seien u. s. w. Ich erlaube mir nun die Frage, ob sie von sprachwissenschaftlicher Fernsicht aus je eine Sprache gefunden haben, die für eine Form zwei oder gar m[e]hr Ausdrücke verwendet in völlig gleichen Be[deutungen].6 Für eine Antwort, auch eine öffen[tliche] [(und vielleicht hab]en Sie, sehr geehrter Herr, diese [jedenfalls i]nteressante Frage [schon einm]al behandelt), wäre [ich Ihne]n sehr dankbar. Da es sich [um e]ine nicht ganz unwichtige Sache handelt, würde ich mic[h so]gar sehr freuen, wenn ich Ihre Antwort möglichst wörtlich (damit ich nichts verfälsche) öffentlich benutzen könnte und dürfte. Bemerken will ich noch, dass das eigentümliche Schwanken des Tscheremissischen7 zwischen gəč und gəčn̥, leč und lečn̥8 wahrscheinlich in dem von K. Schriefl9 in Keleti Szemle XIII10 gezeichneten Zusammenhang11 gehört, also nicht von Hermann zu seinen Gunsten verwendet werden könnte.
Mit hochachtungsvollen Grüssen
Ihr sehr ergebener
Ernst Lewy.
Wechterswinkel (Ort Unsleben)
8.8.21 Unter-Franken.
1 Schuchardt (1920). Sprachursprung III (Prädikat, Subjekt, Objekt.).
2 Hans Conon von der Gabelentz (1807-1874), deutscher Politiker und Sprachforscher.
3 Lewy (1913a). Preußisches. Dabei handelt es um eine in den Indogermanischen Forschungen 32 erschienene Kritik an Reinhold Trautmanns Werk Die altpreussischen Sprachdenkmäler. Einleitung, Texte, Grammatik Wörterbuch (1910).
4 Eduard Hermann (1869-1950), Indogermanist, 1917-1937 Professor in Göttingen.
5 Hermann (1916). Wills Kenntnis des Preussischen. Die Arbeit erschien in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung47. Zeitgenössisch wird diese Zeitschrift häufig nach ihrem Herausgeber als „Kuhns Zeitschrift (KZ)“ betitelt. In besagtem Artikel geht es um die preußische Übersetzung des Katechismus durch den deutschen Pastor Abel Will aus dem 16. Jahrhundert, wobei Hermann den Verfasser verteidigt, dem viele mangelnde Sprachkenntnisse unterstellen. Gegen den Einwand einer als unrealistisch kritisierten Überfülle an Formen in Wills Preußischen führt Hermann etwa Beispiele von nebeneinander gebrauchten Doppelformen im Lateinischen an wie civi - cive, igni - igne, securim - securem usw. (vgl. Hermann 1916: 147).
6 Die Lesbarkeit der folgenden Passage ist durch Kuvertreste, die auf der Briefseite kleben, stark erschwert. Katrin Purgay sei hier für ihre Hilfe bei der Entzifferung gedankt.
7 Die moderne Bezeichnung für das Tscheremissische lautet Mari.
8 Diese Formen finden sich in Lewys Tscheremissischer Grammatik (1922a) in folgender Umschrift: gətſ[n̥] bzw. lɛ ∣tſ[n̥] (vgl. etwa das Einschaltblatt neben S. 166). Bei der ersten Form handelt es sich um die Elativmarkierung, bei der zweiten um die Ablativmarkierung.
9 Karl Schriefl, Realschulprofessor in Graz.
10 Schriefl (1912/1913). Der „Genetiv“ im Jakutischen und Verwandtes.
11 Schriefl versucht die in den „uralaltaischen“ Sprachen häufig vorkommenden Doppelformen (mit bzw. ohne -n) damit zu erklären, dass die Suffixe ursprünglich selbstständige Wörter gewesen waren, wobei das -n zum Ausdruck des attributiven Verhältnisses zwischen Stamm und Suffix diente (vgl. Schriefl 1912/1913: 278).