Johann Urban Jarnik an Hugo Schuchardt (24-05088)

von Johann Urban Jarnik

an Hugo Schuchardt

Wien

10. 04. 1880

language Deutsch

Schlagwörter: Romanische Philologie Universität Prag Diez, Friedrich Ispirescu, Petre Mussafia, Adolf Meyer, Joseph (1885–1890) Hasdeu, Bogdan Petriceicu (1879) Schuchardt, Hugo (1880) Mazzoni, Bruno (1983)

Zitiervorschlag: Johann Urban Jarnik an Hugo Schuchardt (24-05088). Wien, 10. 04. 1880. Hrsg. von Luca Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2560, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2560.


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Hochgeehrter Herr Professor!

Ich dachte schon daran, Ihren ersten Brief zu beantworten, als ich Ihre zweite Sendung erhielt und nun mache ich mich ungesäumt an die Antwort.

Nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre freundlichen Ratschläge. In der That würde eine solche Arbeit, wie Sie das lateinisch-romanische Wörterbuch auffassen, eine zu meiner Geistesrichtung ungemein passende sein, nur darf ich nicht daran denken, in meiner jetzigen Lage an die Ausführung derselben zu schreiten. Ich muss eine Zeit abwarten, wo ich an dieser so viel Zeit erfordernden Arbeit mit mehr Musse arbeiten könnte, als jetzt; denn das verhehle ich mir nicht, dass wenn schon die Abfassung der Indices zu Diez1 und zu Cihac2 mich viel Zeit gekostet haben, dies bei einer solchen Arbeit unvergleichlich mehr der Fall sein müsste. Erst bis es mir gelingen sollte, irgendwo an einer Universität als Ausserordentlicher3 anzukommen, würde ich daran denken können. |2| Aber noch etwas anderes macht mir dabei Sorge: ob es mir nämlich gelingen würde, alle die Wörterbücher, die ich dabei brauchen würde, mir auf einige Zeit zu verschaffen. Doch darüber kann noch gesprochen werden, bis ich in der Lage sein werde, über meine Zeit freier zu verfügen als dies jetzt der Fall ist.

Was nun Ihren zweiten Brief und zugleich Vorschlag in Bezug auf den Artikel über die neuere rum. Literatur betrifft, so muss zunächst abgewartet werden, ob die Redaction des Meyers'chen Konversations-Lexikons4 auf Ihren Vorschlag eingeht. Ist dies der Fall, so kann ich nicht anders, als den Antrag anzunehmen, da die Sache mit einer von mir unternommenen Arbeit eng zusammenhängt, an deren Ausführung ich bereits die erste Hand gelegt habe. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, über die Sache, bevor sie bis zu einem gewissen Stadium vorgerückt sein würde, zu schweigen; Ihr freundlicher Brief bringt mich jedoch wenigstens Ihnen gegenüber aus meiner Reserve, indem ich Sie nur bitte, Andern vorläufig nicht darüber zu |3| sagen. Ich habe nämlich den Plan gefasst, in Gemeinschaft mit Herrn Petru Ispirescu eine rumänische Chrestomathie von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten zu geben, sammt einer grammatischen Einleitung, literarischen und biographischen Notizen und einem möglichst vollständigen rum-deutschen Glossar zu den in dem Lesebuch vorkommenden Texten.5

Das Glossar würde besonders dadurch an Wert gewinnen, dass ich mich bestreben würde, bei Neologismen die im Volke lebenden geläufigen Ausdrücke oder auch sonst Synonymen anzuführen, so dass es jedem frei stünde, den einen oder den andern Ausdruck, der ihm nicht besonders gefällt, durch einen andern zu ersetzen. Bereits hat mir auch der besagte Herr Ispirescu in der kurzen Zeit, seitdem wir über das Projekt einig geworden sind, eine ziemlich grosse Anzahl recht interessanter Excerpte geschickt. Nun würde das Buch dadurch nur gewinnen, wenn an die Spitze desselben ein Abriss der rum. Literaturgeschichte gestellt |4| werden könnte, allerdings in einer etwas ausführlicherer [sic] Form, als dies im Lexikon der Fall sein könnte. Daher würde ich das Anerbieten gerne annehmen, nur müsste der Termin wenigstens um einen Monat noch verlängert werden, und ich vom Gegenstand der Vorlesungen im nächsten Wintersemester etwas wählen, was nicht viele Vorbereitungen erfordern würde. Allenfalls könnte ich gerade die rumänische Literatur oder ausgewählte Capitel aus derselben zum Gegenstand der Vorlesungen machen, wo ich ja nicht nur zwei sondern sogar drei, eventuell auch noch mehr Sachen auf einmal abthun würde, da ich bei der Lectüre von Schriftstellern auch auf die lexicalische, fraseologische und besonders syntaktische Seite mein Augenmerk richten würde.6

Zum Schlusse noch die Erwähnung, dass Herr Prof. Mussafia sich wol befindet; in Bezug auf vắduv habe ich leider nichts bei der Hand, wo ich nachschlagen könnte, werde jedoch darüber nachforschen.7 Dass ich heuer in den Ferien hier verbleiben werde, habe ich Ihnen glaube ich, schon mitgetheilt.

Mit herzlichsten Grüssen

ergebenst

Wien am 10. April 1880.
Johann Urban Jarník


1 Jarník (1878a) .

2 Vgl. den Brief 05088 und die dazu gehörigen Fußnoten.

3 Jarník wurde in der Tat zwei Jahre später außerordentlicher Professor für romanische Philologie – "the first professor of Romance philology at the Czech University of Prague" ( Vočadl 1923 : 644) – an der nach der Spaltung der Universität Prag neu entstandenen tschechischen Karls-Universität, welche damit "Universitatea Carolina a devenit a cincea instituţie de învăţămînt superior din afara României (dupa cele din Petrograd, Torino, Budapesta şi Viena), la care se putea studia această limbă [Rumänisch]" ( Felix 2011 : 153, vgl. auch Jarník 1909 : 1337, Jarník 1922 : 17, Smrčková 1994 : 55). Dort wurde er 1888 ordentlicher Professor (vgl. u.a. Jarník 1909 : 533).

4 Es kann sich um den Artikel "Rumänische Litteratur" im Supplementband 21 der dritten Auflage des Meyers Konversations-Lexikon(s) (1884: 769-771) oder um den Artikel "Rumänische Sprache und Litteratur" in der vierten Ausgaben desselben (1889: 31-32) handeln. Es ist jedoch nicht ersichtlich, wer der Autor / die Autoren der zwei Aufsätze war(en).

5 Zum Projekt der Chrestomathie vgl. die Schilderung Jarníks selbst ( 1909 : 962). Das Werk wurde nie publiziert, denn auch Moses Gaster arbeitete an einem ähnlichen Projekt, das mit dem von Jarník und dem Folkloristen, Schriftsteller und Verleger Petru Ispirescu (1830-1887) zwischenzeitlich zusammengelegt wurde, und das letzten Endes er allein vollbrachte ( Gaster 1891 ): "Gaster se grăbea să înlăture concurenţa lui Petre Ispirescu şi Jan Urban Jarník, cunoscutul romanist ceh, care puseseră la cale, încă din 1879, întocmirea, în colaborare, a unei crestomaţii româneşti pentru străini. La data când Gaster îşi făcea publică intenţia de a întocmi şi el o astfel de lucrare, crestomaţia lui Ispirescu şi Jarník se afla, graţie hărniciei modestului culegător tipograf, într-un stadiu destul de avansat. Speriat de concurenţa lui Gaster, a cărui pregătire filologică era oricum superioară, ca să nu mai vorbim de numărul mare de manuscrise pe care le avea la îndemână, Jarník recurge la sfatul şi, ulterior, la arbitrajul lui Titu Maiorescu. La sugestia acestuia, Gaster acceptă, în primă instanţă, să lucreze crestomaţia împreună cu Jarník, lui Ispirescu urmând a i se recompensa munca de până atunci, în caz că va pune la dispoziţia celor doi autori materialul deja excerptat. Ulterior, Gaster renunţă la colaborarea lui Jarník – o făcuse, mai înainte, şi în cazul unei gramatici româneşti –, pe motiv că 'nu poate să lucreze cu cineva împreună la crestomaţii sau la gramatici, fiind lucrări prea individuale'" ( Florea 2009b : 203, vgl. auch Florea 2009a : 223). Zahlreiche Details zum Projekt von Jarník und Ispirescu können dessen Briefen an Jarník (abgedruckt in Jarník 1983 ) entnommen werden.

6 Es sind keine Vorlesungen von Jarník im Wintersemester 1880/81 bekannt.

7

Hasdeu (1878: 310) hatte die Etymologie von rum văduă wie folgt erklärt: "191. văduu, văduă (veuf, veuve): вдовъ, ѡм в¢ъдҳҳ, la plural: въдҳи мҳлци. – вдова, въдҳъ. 53.

Lat. viduus, vidua. D. Cihac (p. 304) cunósce numaĭ forma văduv-văduvă cu propaginaţiunea luĭ v în sufix ca şi ital. vedovo-vedova, fr. veuf-veuve etc. Maî este, bună-óră în Psaltirea luĭ Coresi ps. 108, şi forma articulată въдҳѡ, născută deja din văduva prin aceĭaşĭ transiţiune o = va, despre care veḑĭ maĭ sus la cuvîntul luo". Schuchardt erwiderte ihm in seinen Kommentaren dazu ( 1880, XXIX): "Miklosich hatte Entlehnung von vădúvă aus dem Slawischen angenommen; indessen würde altslaw. vĭdóva im Rumänischen vădoavă, nie văduvă und noch weniger die unter No. 191 angeführte Form văduă ergeben haben. Aber Einfluss der slawischen Betonung auf das lateinische Wort nehme auch ich an; das Südrumänische betont noch: vèduă". Daraufhin fügte Hasdeu ( 1880a , LXXV) hinzu: "15. Schuchardt greşesce la pag. XXIX, când dice că la Daco-românĭ se accentéză văduvă, ĭar la Macedo-românĭ veduă. Şi la noĭ acest cuvînt portă accentul pe prima silabă. Tocmaĭ acésta însă dovedesce, că el derivă din latinul vidua şi n'are a face cu slavicul vĭdòva". Die Diskussion zum Thema setzte sich auch in der Korrespondenz zwischen Hasdeu und Schuchardt fort. So liest man im Brief von Schuchardt an den rumänischen Philologen vom 9.5.1880: "Meine Wörterbücher lassen mich bei jedem Schritt im Stich. Über mein vădúvă habe ich mich sehr geärgert; aber ich habe es mehrmals (z.B. Ofener Wtb.: vădúv, vădúvă) so angegeben gefunden und entsinne mich nicht, irgendwo die Bezeichnung mit dem richtigen Akzent gesehen zu haben. Worauf soll man denn bauen?" (ich zitiere aus der Ausgabe von Mazzoni 1983: 188f.).

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