Johann Urban Jarnik an Hugo Schuchardt (23-05087)
an Hugo Schuchardt
11. 01. 1880
Deutsch
Schlagwörter: Literarisches Zentralblatt für Deutschland Maiorescu, Titu Liviu Diez, Friedrich Miklosich, Franz von Schuchardt, Hugo (1877) Schuchardt, Hugo (1881)
Zitiervorschlag: Johann Urban Jarnik an Hugo Schuchardt (23-05087). Wien, 11. 01. 1880. Hrsg. von Luca Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2559, abgerufen am 02. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2559.
Wien am 11. Jänner 1880.
Hochgeehrter Herr Professor!
Es hat mich sehr gefreut ein Lebenszeichen von Ihnen erhalten zu haben, da ich nach dem langen Schweigen annehmen zu können glaubte, dass Sie auf meine Wenigkeit vollständig vergessen haben. Es hätte auch mich sehr gefreut, wenn ich Sie während Ihres letzten Aufenthaltes in Wien hätte sehen können, aber nicht etwa deswegen, um die Resultate meiner Reise mit denen der Ihrigen1 zu vergleichen. In jeder Beziehung waren Sie für Ihre Reise besser ausgerüstet, als ich; was mir besonders hindernd in den Weg trat, war Mangel an Mitteln. Einzig und allein auf meinen Gehalt angewiesen, von dem ich einen beträchtlichen Theil zur Erhaltung meiner in Böhmen befindlichen Familie senden musste, war ich es zufrieden, wenn ich an einem Orte, wo ich eine zuvorkommende Aufnahme gefunden, längere Zeit bleiben konnte; daher erklärt sich mein zweimonatlicher Aufenthalt zu Bukurest allein, wo ich |2| im Hause des Herrn Titu Maiorescu eine äusserst freundliche Aufnahme fand.2 Sie werden vielleicht doch im Laufe dieses Jahres einmal nach Wien kommen und dann können wir die Sache des Weitern besprechen. Übrigens werde ich auch die heurigen Ferien in Wien zubringen, da ich gerade um diese Zeit einen Familienzuwachs erwarte, daher meine Frau nicht leicht eine grössere Reise unternehmen könnte.
Mit Arbeiten sieht es heuer bei mir arg genug aus; voriges Jahr haben mir die Vorlesungen im Frauenerwerb-Vereine so viel zu schaffen gegeben, heuer ist es meine ausgedehnte Lehramtsthätigkeitü3: habe ich doch wöchentlich 34 Stunden zu unterrichten, davon 18 an meiner Anstalt, dann je 3 und 4 an zwei Gymnasien (franz. als nichtoblig. Gegenstand) 2 an der Universität und endlich Lectionen zu je 3 und 4 Stunden (5 franz. und 2 Stunden böhmisch). Es bleibt mir daher an den meisten Tagen nur die Zeit von 9-11 Uhr Abends zur Disposition, die ich wenigstens jetzt zur Vorbereitung meiner Vorlesungen im Sommersemester (Morceaux choisis von Darmesteter und Hatzfeld)4|3| benütze.
Ich war diese Tage in Verhandlung mit Niemeyer wegen Übernahme eines auf alle Werke von Diez sich gründenden Indexes der Elemente der rom. Sprachen, wo also die Geschichte eines jeden lat. germ. u.s.w. Wortes, das in die rom. Sprachen Eingang gefunden hat, soweit es in Diez vorkommt, nachgewiesen werden sollte. Die Arbeit habe ich allerdings bis jetzt nur für das Wörterb. gemacht, wollte sie jedoch auch auf die andern Werke ausdehnen. Die Antwort lautete vorläufig ablehnend; obgleich er mich nun auf Henninger verweist, so will ich doch für jetzt die Sache an sich beruhen lassen und sobald ich dazu komme, vorläufig für meinen Privatgebrauch, mir alle die Etymologien sammeln, die auf verschiedenen Orten (in Zeitschriften, Recensionen u.s.w.) sowol von den in Diez angeführten, als auch nicht angeführten Wörtern gemacht wurden. Zur vollständigen Verarbeitung eines solchen Materials müsste ich allerdings mehr Musse haben, als ich jetzt habe, und bezüglich der Art und Weise könnten Sie mir |4| freundlichst Winke geben und dies um so eher, als Sie ja in einem der Jahrgänge des Lt. Centralblattes, (welchem?) wie mir Prof. Miklosich mittheilte, auf etwas Ähnliches hingewiesen haben.5
Ausserdem arbeite ich langsam mit einem meiner rumänischen Zuhörer6 an der Revision der mir zur Disposition gestellten Sammlung von rum. Volksliedern und dachte, alles bis jetzt in dieser Beziehung Gedrucktes auf Zetteln abgeschrieben zu bekommen. Den Unterricht im Albanes. setze ich fort, leider kann ich aus Zeitmangel meinen Lehrer nur einmal die Woche kommen lassen. – Was die 1. Sg. Impf. auf -am betrifft, so bin auch ich derselben Meinung, obgleich die Form ohne m nicht mehr vorkommen dürfte; denn 'era să caz', wo sie als vorkommend angesehen werden könnte, kann ganz gut als 3. Sg. aufgefasst werden.
Damit schliesse ich Ihnen alles Beste in dem neuen Jahre wünschend. Von Calderon weiss ich gar nichts7.
Achtungsvoll
DrJohann Urban Jarník
da es sich darum handelt den Abgang von mir für die Pension entzogegen8 300 fl. zu decken
1 Gemeint ist die Spanienreise Schuchardts (vgl. oben).
2 Dies betont Jarník auch in seiner Drumul pe care am mers ( 1909 : 302f.), wo diese Reise jedoch in deutlich positiveren Tönen geschildert wird (vgl. auch ebd.: 850; 863), sowie auch in Jarník (1917b) und in Jarník ( 1922 : 13-16). Seine Reise wurde mit solcher Begeisterung in Rumänien aufgenommen, dass sogar die Zeitschrift România liberă in der Ausgabe vom 4. Mai 1879 davon auf Seite 2 berichtete.
3 Die Ergänzung befindet sich quer auf der Seite, wird aber am Ende des Briefes wiedergegeben.
4 Darmesteter & Hatzfeld (1876) . Jarník hielt im Sommersemester 1880 eine Vorlesung mit dem Titel "Die französische Sprache im XVI. Jahrhundert, mit Zugrundelegung Darmester's und Hatzfeld's Morceaux choisis (Paris, Delgrave 1876)" (Öffentliche Vorlesungen 1880: 49).
5 Es ist nicht klar, auf welches Werk sich der Hinweis bezieht; in Frage könnte die Rezension der Romanische(n) Wortschöpfung von Diez (1875) kommen, die Schuchardt in der Ausgabe 1877 des Literarische(n) Centralblatt(es) veröffentlichte (vgl. Schuchardt 1877).
6 Es ist hier unklar, um wen es sich handelt. Es könnte Andreĭu Bârseanu (1858-1922), späterer rumänischer Folklorist, gemeint sein. Dieser studierte zwischen 1878 und 1881 in Wien und München und wurde von Jarník während seiner Reise in Blaj 1879 zum Mitarbeiter gewählt (vgl. Jarník 1909 : 311, Jarník, Zavoral, Jarník & Hušková-Flajšhansová 2005 : 65). 1885 gab er mit Jarník den Band Doine şi strigăturĭ din Ardeal ( Jarník & Bârseanu 1885 ) – laut Gorovei ( 1938 : 4) "[l]ucrarea fundamentală asupra limbei româneşti a lui Jarník" – heraus. Die beiden standen in langem und intensivem Briefkontakt (vgl. die 130 zwischen 1879 und 1922 von Jarník geschickten Briefe, die in Jarník 1982 : 26-170 abgedruckt sind). Es könnte sich aber auch um einen gewissen Socaciu, der mit Jarník 1880 einige Wochen in Pottenstein verbrachte und mit ihm arbeitete (vgl. Jarník 1909 : 429, Jarník 1922 : 9), handeln.
7 Schuchardt arbeitete anscheinend an seinem Aufsatz zur deutschen Calderón-Literatur (Schuchardt 1881).
8 Möglicherweise Verschreiber für "entzogenen".