Johann Urban Jarnik an Hugo Schuchardt (06-05070)
an Hugo Schuchardt
05. 06. 1878
Deutsch
Schlagwörter: Publikationsversand Habilitation Biographisches Volkslied Märchen Orthographie Phonetik Bibliotheken und Bibliothekswesen Don Quijote Studentenverbindungen Dialektologie und Sprachgeographie Universitätsbibliothek Graz Societatea Academică Literară "România Jună" Academia Română (Bukarest) Rumänisch
Spanisch Moldovan, Ioan Micu Cipariu, Timoteiu Mussafia, Adolf Böhl de Faber y Larrea, Cecilia
Zitiervorschlag: Johann Urban Jarnik an Hugo Schuchardt (06-05070). Wien, 05. 06. 1878. Hrsg. von Luca Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2542, abgerufen am 08. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2542.
Wien am 5. Juni 1878.
Hochgeehrter Herr Professor!
Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich Ihnen die zwei gewünschten Exemplare der Vorlesungen Mussafia's erst jetzt sende.1 Die Ursache der Verspätung war folgende. Der Herr, welcher die Abschriften besorgt, war so unpraktisch, nicht eine grössere Anzahl von Exemplaren herzustellen, als diejenigen, auf die er Abonnenten hatte. Durch den Umstand jedoch, dass einige derselben zwar die ersten paar Bogen, nicht aber die nachfolgenden abnahmen, ist ihm eine gewisse Anzahl von mehr oder weniger unvollständigen Exemplaren zurückgeblieben und es blieb nichts anderes übrig, als die fehlenden nochmals abschreiben zu lassen. Dies hat nun doch einige Tage in Anspruch genommen und dann musste ich es doch |2| ein wenig durchsehen, bevor ich es abschickte. Für Sie ist es mir doch gelungen ein vollständiges Exemplar zu bekommen, bitte dieses für sich zu behalten. Der Preis des einen beläuft sich auf 9 fl., beide zusammen also 18 fl.
Am vergangenen Montag habe ich endlich auch mein Gesuch um Zulassung zur Privatdocentur eingereicht und würde sehr froh sein, wenn es bis zu den Ferien von der Universität aus erledigt werden könnte. Soll ich auch im nächsten Schuljahr irgend welche Begünstigung vom Ministerium erlangen, muss ich jedesfalls wenigstens etwas für die Habilitation gethan haben, sonst wird mein Gesuch gewiss abschlägig erledigt werden.
Von Prof. Moldovan2 aus Blasendorf habe ich eine ganze Sammlung von |3| rumänischen Volksliedern und Volksmärchen3, die er mir schon vor einem Jahre versprochen hatte, zur freien leihweisen Benützung bekommen. Die consequent durchgeführte etymologische Orthographie benimmt ihnen allerdings viel Wert, trotzdem hoffe ich während der Ferien etwas davon profitiren zu können.
In dieser Hinsicht trage ich mich mit einem Plane herum, den Sie vielleicht billigen werden. Seit mehreren Jahren bin ich wolthätiges Mitglied des stud. Vereins Romania Juna4 an dessen Sitzungen und Versammlungen ich öfters Theil nehme. Ich möchte nun das Beisammensein von so vielen Rumänen aus verschiedenen Gegenden dazu benützen, mir von ihnen Volksmärchen, Volkslieder, Sprichwörter u. drgl. in ein Buch eintragen lassen, welches ich im Vereine auflegen würde. Die Orthographie müsste natürlich phonetisch sein; jedermann würde ersucht werden, nicht nur seinen Beitrag zu leisten, sondern auch von den |4| Aufzeichnungen Anderer Notiz zu nehmen und sprachliche Bemerkungen daran zu knüpfen, ob z.B. das oder jenes Wort auf die oder jene Weise in seiner Heimat gesprochen wird, ob es überhaupt dort gebräuchlich ist und wenn nicht, welches andere Wort für diesen Begriff dort gilt u.s.w. An dem notwendigen Entgegenkommen würde es gewiss nicht fehlen, um so weniger, wenn ihnen in Aussicht gestellt würde, dass einmal das Ganze, natürlich gehörig verarbeitet, veröffentlicht werden könnte, wobei die Art und Weise der Entstehung bekannt gegeben und ich bloss als Arrangeur fungiren würde. Während der Pfingstfeiertage (welche ich wahrscheinlich von Sonntag-Dinstag [sic] Abend bei Verwandten in der Nähe von Znaim (Mähren) zubringen werde) werde ich mich daran machen einen selbstverständlich rumänisch abgefassten Aufruf und das Programm festzustellen. Vielleich [sic] werde ich dann eine Anzahl der |5| Exemplare davon autographiren und unter die einzelnen Mitglieder vertheilen lassen.
Zugleich mit dieser Sendung theilte mir Moldovan eine andere sehr erfreuliche Thatsache mit, die nämlich, dass Cipariu seine ganze Bibliothek dem erzbischf. Capitel vermacht hat und dieselbe schon jetzt während seiner Lebzeiten in das Seminar überführt und dort unter der Leitung Moldovan's aufgestellt werden wird.5 Auf diese Weise wird diese Sammlung von sehr wertvollen Büchern und Handschriften allgemeiner zugänglich sein, als dies bis jetzt der Fall gewesen und ich dürfte vielleicht im Laufe des nächsten Jahres eine Wanderung nach diesem Mecca der Rumänen antreten.
Dass ich Spanisch betreibe, habe ich letzten Sonntag Herrn Prof. Mussafia mitgetheilt, der dies um so mehr billigte, als er meinen Lehrer, der ein junger Mann, Ingenieur vom Fach ist, persönlich kennt. Sollten Sie irgend welche Aus|6|künfte über Spanien verlangen, so ist er vollständig der Mann dazu Ihnen dieselben zu geben, da er auch in Spanien sehr viel herumgereist ist. Ich ergötze mich an der Lecture des Don Quijote, ohne dabei grammatische Übungen zu vernachlässigen. Die letzteren bestehen darin, dass ich zu jeder Stunde vier Seiten beschreibe, meistens ist dies ein Brief, wo ich über Wirkliches und Erdichtetes berichte, und den er zu Beginn der Stunde corrigirt. Ebenfalls hat er mir einen Band Gedichte von Zorrilla6 gebracht und versprochen, mir auch Novellen von Fernan Caballero7 zu bringen, die ich dann auf die Ferien mitnehmen kann.
Von wissenschaftlicher Grammatik weiss er freilich wenig, sonst aber weiss er mir fast immer gute Auskunft zu geben. Er ist zur Weltausstellung hieher |7| gekommen, hat sich hier verliebt, dann verheiratet und fristet sein Leben durch Stunden, Correspondenzen und Zeitungsartikel. Ich habe mich vielleicht zu lange aufgehalten bei diesem Punkt, habe dies jedoch gethan, weil ich hoffte, dass es vielleicht nicht ganz ohne Interesse für Sie sein werde.
Betreffs der Grammatik wäre es mir sehr angenehm, wenn ich bis etwa 10. Juli etwas Positiveres darüber erfahren könnte, da dies bei meinen Gesuch um theilweisen oder ganzen Urlaub für das nächste Schuljahr von wesentlichem Einfluss sein könnte.
Nun aber habe ich Sie lange genug mit meinen Gekritzel aufgehalten, ich will endigen, indem ich mich zeichne hochachtungsvoll
Ihr ergebener
Johann Urban Jarník
I Salzthorgasse 5.
1 Es ist nicht möglich, mit Sicherheit zu bestimmen, um welche Vorlesungen Mussafias es hier geht, da die entsprechenden Abschriftsexemplare in der Universitätsbibliothek Graz nicht erhalten sind. Von den Vorlesungen Mussafias aus den Jahren um das Briefdatum könnten jedoch einige in Frage kommen, wie "Historische Grammatik der italienischen Sprache", die Mussafia im Wintersemester 1875/76 hielt (vgl. Öffentliche Vorlesungen 1875/76: 46), "Ueber Wortbildung und Wortvorrath im Romanischen, mit besonderer Berücksichtigung des Italienischen und Französischen" (Sommersemester 1877, vgl. Öffentliche Vorlesungen 1877: 46), oder auch "Historische Grammatik der französischen Sprache" (Wintersemester 1877/78, vgl. Öffentliche Vorlesungen 1877/78: 48).
2 Ioan Micu Moldovan (1833-1915), Historiker, Folklorist, Theologe, Schüler und Nachfolger Ciparius. Auch mit ihm kam Jarník während seines Studienaufenthalts in Blaj 1876 in Kontakt (vgl. Jarník 1922 : 6, Slavici 1908 : 342, Bozac 1967 : 196) und pflegte mit ihm einen relativ intensiven Briefwechsel in den Jahren 1876-1888 (abgedruckt in Jarník, Zavoral, Jarník & Hušková-Flajšhansová 2005 : 38-73 und analysiert in Bozac 1967 ).
3 Die Sammlung Moldovans wurde erst Ende des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht ( Moldovan 1987 ).
4 Die Societatea Academică Literară "România Jună" war eine der wichtigsten rumänischen studentischen Verbindungen in Wien, deren Vorsitzender Ioan Slavici war und der auch der Dichter Mihai Eminescu und der Literat und Philosoph Titu Liviu Maiorescu angehörten. Jarník war "membru de onoare al societăţi 'România jună' din Viena (din 1881)" ( Bozac 1967 : 195); zu seinen Beziehungen zu dieser Vereinigung vgl. Jarník (1922 : 4).
5 Die reiche Bibliothek Ciparius, die er der Metropolie von Blaj überlassen hatte, wurde 1948 konfisziert und in die Bibliothek der Zweigstelle der Academia Română in Cluj überführt.
6 Möglicherweise Francisco de Roja Zorrilla (1607-1648).
7 Fernán Caballero alias Cecilia Böhl de Faber y Larrea (1796-1877).