Carolina Michaëlis de Vasconcelos an Hugo Schuchardt (36-7333)

von Carolina Michaëlis de Vasconcelos

an Hugo Schuchardt

Porto

10. 11. 1898

language Deutsch

Schlagwörter: Sachwortforschung Spinnen und Weben Gesundheit Materialsendung (ethnographisch) Spindel Zeichnung Sprichwörter Verleih von Publikationen Sprachprobe Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg Revista Lusitana: Archivo de Estudos Philologicos e Ethnologicos relativos a Portugallanguage Portugiesischlanguage Asturischlanguage Spanischlanguage Katalanisch Asturien

Zitiervorschlag: Carolina Michaëlis de Vasconcelos an Hugo Schuchardt (36-7333). Porto, 10. 11. 1898. Hrsg. von Bernhard Hurch (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.242, abgerufen am 20. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.242.

Printedition: Hurch, Bernhard (2009): "In der Phäakenluft von Graz bin ich erst recht faul geworden." Der Briefwechsel von Caroline Michaëlis de Vasconcellos und Hugo Schuchardt. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 72., S. 19-111.


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Porto 10 Nov. 1898

Hochverehrter Herr,

hätte ich Zeit! Ja, dann machte ich mich daran, alle meine Zettel mit etymol. u. folkloristischen Aufzeichnungen über Kunkel, Rocken, Spindel, Weife, Haspel, Docke etc zusammenzusuchen, die seit langen Jahren im großen verheißungsvollen limbus meines Wörterbuches stecken geblieben sind, u. der Stunde der „Erfüllung" harren, die vielleicht niemals kommti. Und natürlich schickte ich sie Ihnen, säuberlich zurechtgestutzt – froh darüber daß dieselben überhaupt u. von Meisterhand verwendet würden! – Aber – jede freie Stunde widme ich dem Canc. da Ajuda, den ich endlich fertig haben möchte — recht beklommen darüber daß ich seit langer Zeit so gar nicht zu stetiger, ruhig fortschreitender Thätigkeit komme. Mein zu schlimmer Melancholie neigender Mann bedarf meiner recht viel, macht mir zeitweise schwere Sorgen – u. ich nehme ihm von seiner Arbeit ab was er selber nicht zu leisten im Stande ist. –

Darum biete ich nur, ohne viel Suchen u. Nachschlagen was in der Erinnerung haftet. |2| Nachhelfen werden den ungelenken Erklärungen u. Skizzen die zwei fusos, die ich Ihnen zusende, ferner das Bildniß der spinnenden Parze.

Beginnen muß ich mit einem Seufzer. Es ist doch eine glorreiche Sache um die deutsche Mädchenerziehung! Als „höhere Berliner Tochter" habe ich niemals eine Hand-Spindel in Thätigkeit gesehen (oder gar selbst in Thätigkeit gesetzt) – höchstens aus der Ferne, auf den Brettern, die die Welt bedeuten, ein: Grethchen am Spinnrade — u. weiß darum mit der deutschen Art u. Terminologie gar nicht Bescheid. Erst als portug. Hausfrau habe ich's gelernt wie ein Flachsfeld aussieht u. durch welche lange Reihe von tormentos die kostbare Faser hindurchgeht, ehe sie als fertiges schneeweißes Gspinnß unsre Schränke u. Truhen füllt. Freilich, zu meiner „weibl. Handarbeit" habe ich das Spinnen dennoch nicht erwählt. Das muß man in den Kinderschuhen lernen. Sonst geht es nicht. Meine „Zigarre" ist ein kleines Klöppelkissen zu dem ich greife, wenn ich ausruhen oder die Gedanken von irgend einem Problem ablenken will, weil die kunstvoll verschlungenen Linien in einem hübschen Spitzenmuster wirklich beschäftigen, fesseln, u. zerstreuen – mehr als das eintönige Fadendrehen. – |3| Hier zu Lande aber, wo nicht nur die serrana Jahr ein, Jahr aus, die vom Hirten in ganz primitiver Weise hergestellte roca im Gürtel u. in der Hand die aus der selben Quelle stammende Spindel trägtii, sondern auch den Dienstboten bis vor kurzem täglich eine bestimmte Anzahl von ..... ja, wie heißen die Dinger im Deutschen? ich muß zum Lexikon greifen, u. finde natürlich nichts Brauchbares – sagen wir von Garnkolben (maçarocas) abliefern mußte, u. auch die Herrin also sachverständig sein u. selbst unterweisend u. mithelfend einzugreifen pflegte, damit die teias sich mehrten – hier im Lande des einst weltberühmten fio portuguêsiii ist es schier unmöglich, ganz unkundig zu bleiben. Man mußte niemals einem der Winterspinnabende – den serões das fiandeiras – diesen urgemütlichen, altväterischen, nein altmütterischen Einrichtungen beigewohnt haben, bei denen Mährchen, Lieder, Sprichwörter, Witze etc von den Alten an die Jungen weitergegeben wurden!

Dabei fällt mir ein: Pouco a pouco fia a velha o côpo(s.u.) – Cada roca tem seu fuso, cada terra tem seu uso.ivQuem come fiado v.... obra maçarocas. Grob.! aber echt portugiesisch. — Und um auch etwas Zarteres zu bieten:

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Quem me dera ser ditoso Como o linho que fiais!

Quem me dera esses beijinhos Como vos no linho dais!

Dazu einige klassische Reminiscenzen: die Daliana des Lusiadenfangers d. h. das Sonett: quantas vezes do fuso se esquecia! — die serrana des Crisfal1carreando ũas carreiras / em ũa roca fiando / mas como que ia cuidando / cahia se lhe o fuso / da mão de quando em quando — Aus der antiken Vorlage ( et colus et fusi digitis cecidere remissis) darf man übrigens wohl schließen daß die Römerinnen den Rocken nicht im Gürtel trugen (sondern im Arme? – à moda da serra).

Eine lange Vorrede, nicht wahr?, für Jemand der Eile hat u. außerdem wenig Text bietet? Die Sache ist nämlich einfach. Das Spinnen, oder die Spindel, ist – soweit ich sehe, im ganzen Lande das u. die gleiche.

Für den Spindelkorb – den Wirtel, nicht? – giebt es zwei Namen. Im Norden (dem altgallizischen Minho) heißt er maḯnça, entspricht also dem gall. maḯzo. Die Nebenform maúnça zeigt daß wir es mit manitia manutia zu thun haben. Im übrigen Reiche heißt er mosca vi, mit offenem ó-Laute (also lautlich geschieden |5| von môsca = musca Fliege). Das stimmt – wie sehr oft der Fall ist – zum astur. muezca2 – u. zum kast. muesca, wenn es da auch verallgemeinerte Bedeutung hat. Die Spindel kerben heißt – Port. moscar. Das selbe Wort bedeutet aber in Asturien: die Kastanie an- oder einbeißen (dar um mordiganho), wofür man im Minho u. in der Beira mossegar morsegar sagt. (Auch in Gallizien ist es üblich, doch ist amor(e)gar3 üblicher). Offenbar also Ableitungen von morsus = Biß, auf das ja auch die portmossa zurückgeht. (s. katal. moss-ada -egada -ech -egar etc.). Das Kerb-beißen besorgt sich — beim schlichten Holz-fuso, wie er auf dem Lande verbraucht wurde – eine jede Spinnerin selbst – heutzutage freilich nicht mehr mit den Zähnen, sondern mit einem Taschenmesser. Wie das eine Exemplar Ihnen zeigt, wird er ungekerbt verkauft.4 Nur die städtischen haben hiezu die Metallbekleidung – wandern jetzt natürlich aber auch in entlegne Winkel. Da bringt ihn natürlich der Fabrikant selber an. Bei beiden ist der Kerb stets eine Schraubenlinie u. alle Welt hier erklart es für absolut unmöglich, ohne diese zu spinnen. Und ich wäre geneigt, beizustimmen wenn ich nicht wüßte wie man im Süden total anders strickt als im Norden. Jedenfalls ist es aber5|6| eine vorzüglich, seinem Zweck entsprechende Vorrichtung. Beim Beginn der Arbeit – d. h. so oft eine neue rocada aufgelegt wird (estriga, wenn Flachs gesponnen wird; armovii, wenn estopa; côpo, wenn ) u. dementsprechend eine neue fusada (maçaroca in allen Fällen) beginnt, legt man mit Daumen u. Zeigefinger der Rechten die ersten Flachsfasern, nachdem sie mit der Linken bereits zum Faden gezogen sind, in den Kerb, u. versetzt dann erst mit allen Vieren der Rechten (nur der meiminho bleibt außer Thätigkeit) die Spindel in Bewegung den Faden längend u. die Drehung vervollständigend. Ein Kunststück ist es diese beim Tanzen auch gehörig schwirren (=singen) zu lassen. Sobald der Faden so lang ist daß man aus Zweckmäßigkeitsgründen einhalten u. aufwinden muß, beginnt natürlich die Herstellung der maçaroca am untern Spindelteil (=castão). Er ist sehr oft (bei allen luxuösen Spindeln) mit Metall beschwert: Blei- Messing- oder Silbereinlagen, je nach dem am remate angewendeten Stoff. Das geschieht, damit der fuso sich ganz lotrecht halte – direitinho como um fuso – was er freilich auch ohne diese Zwangsmaßregel thut. Zum Boden strebt er kontinuierlich — fällt er aber wirklich, wie bei Leucothoe Daliana in Crisfal’s Maria, so gilt das auch im Volke für eben |7| so bedeutungsvoll wie wenn eine Köchin die Suppe vorsalzt. Passiert aber genau eben so oft. –

Einseitiger oder in sich zurücklaufender Kerb kommt nicht vor. Sie hätte auch offenbar nur einen Sinn, wenn die Spindel mit einem Köpfchen oder Knöpfchen versehen wäre, wie auf ihren Zeichnungen? Und auch dann, kaum. Mir scheint dann eine Schlinge angebrachter, wie die, welche ich beim Klöppeln, oben am Köpfchen des bilro anbringen muß damit sich das Garn nicht abwickle. Klöppel-ahnliche Spindeln6 habe ich nur an der span. Grenze in Tras-os-Montes gesehen, finde sie aber plump, unpraktisch u. unschön. Die hiesigen sind stets sehr schlank u. nach oben so stark zugespitzt wie die beiden Musterexemplare7

nach unten ohne jede Entases — im ubrigen an Länge u. Schwere Linien­schmuck u. im untern remate hochst verschieden: cada roca tem seu fuso8 etc.

Mit Häkchen, oder gar Löschhütchen, versehene fusos habe ich nie gesehen. –

Oder doch! Es giebt fusos – umgekehrte fusos mit dem verjüngten Ende nach unten9 u. einem Haken im Centrum des Breit-Endes, Ihren südital. ähnlich. Sie heißen fuseiras, oder auch |8|parafusas, dienen aber nicht zum Flachs=Werg oder Wollspinnen sondern ausschließlich um aus zwei bereits gesponnenen Fäden (fios) einen stärkeren (linha) zusammenzudrehen.Wie soll ich Ihnen den Prozeß beschreiben? Die Parze sitzt am Boden – rechts u. links von ihr ein Korb mit maçarocas, die sorgsam vom fuso gestreift u. mit Papierfusel ausgefüllt sind. Über ihr, am Balken des niedrigen Bauernstübchen, zwei Nägel. Die Fadenenden, nach oben geführt, laufen darüber wie über Rollen, u. vereinigen sich in ihrer Hand: sie schürzt beide zur Schlinge u. legt sie um den Haken der fusa u. bringt dieselbe durch kräftiges Streichen der Handflachen aneinander in Rotation. Der genügend gedrehte Faden wird allmählich zum Knäuel aufgerollt.–

Ufff! Genügt das? u. habe ich mich einigermaßen verständlich ausgedrückt? Sonst, bitte, beklagen Sie sich ganz offen. Das Fischbuch gehört Ihnen solange es Ihnen nicht zur Last fällt. ― Wir haben nur einen Sprößling: einen lieben frischen 20 jährigen Burschen. Trotz vorzüglichen Sprachtalentes ist er aber – leider kein Philologe geworden. Er studiert auf der Berlin-Charlottenburger technischen Hochschule ― weil …. nun weil wir ihn selbst dazu getrieben haben. Sonst hätte ich ihn Ihnen längst als Schüler zugesandt. Dr. Prielich hat ihn kennengelernt. Prof Hübner hat ihn sehr gern. Zum idealen Streben gesellt sich bei ihm ein klein wenig mehr Positivismus als bei den Eltern. Er war jetzt wieder 2 Monate bei seinem Mütterchen, an dem er mit allen Fasern seines Herzens hängt u. dem er schon oft hat helfen müssen. Nun aber genug!

Mit bestem Gruße u. herzlichem Dank für Ihr Vertrauen m Hochachtung u. Bewunderung10

Carolina Michaëlis de Vasconcellos .

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i Nur mit bilrodobar u. fio português habe ich mich schon beschäftigt. –

ii Die Exx. die Sie vor Augen haben, sind auf der Drehbank hergestellt — u. kommen auf den feiras zum Verkauf. In ablegnen Ortschaften schützt der Hirte sie.

iii S. in Rev. Lus. u. Rev. Hisp. Notizchen daruber von Morelfatio u. mir. Manches ungedruchte in meinen Mappen u. Kasten. –

iv An der Runkel, dicht unter dem bojo pflegt eine Öse aus Leder zum Tragen des fuso zu sein, wenn er in Ruhe ist. Die Größe u. Schwere u. Schonheit der roca bestimmt natürlich die das fuso. –

v Doppelsinnig – fidare u. filare

vi Mit meinen Gedanken über rosa mosca osca verschone ich Sie

vii Auch armeo ~ Coelho leitet es in der Rev. Lus. von armil = Ärmel. Wohl mit Recht. – Auch Abl. von manus sind üblich. Manelo u. (hisp.) manojo. Letzeres kenne ich nur aus Wörterbüchern. –


1 Titel eines Gedichtes von Cristóvão Falcão.

2 CMdV zweifelt wohl an der Schreibung dieser Wortform, untertsreicht das 'z' und setzt ein Fragezeichen darüber.

3 Auch hier scheint sich CMdV über die exakte Schreibung der Wortform nicht sicher zu sein, sie versieht das mittlere 'r' wiederum mit einem Fragezeichen.

4 HS hebt diesen Satz durch eine dicke Farbunterstreichung hervor. Vgl. HS (1905).

5 CMdV setzt ihre Grußformel (s.u.) ans Ende dieses Blattes, wohl weil die S. 8 bis ganz unten beschrieben ist.

6 Zeichnung s. Scan

7 Hiermit sind vermutlich die beiden Spindeln mit den Inventarnummern ÖMV/63.423 und ÖMV/63.428 aus Schuchardts im Österreichischen Museum für Volkskunde aufbewahrten Sammlung gemeint. Vielleicht stammt auch die Spindel mit der Inventarnummer ÖMV/63.425 von Carolina Michaëlis De Vasconcellos

8 Zeichnung s. Scan

9 Zeichnung s. Scan

10 Ein diesem Brief in der Bibliotheksordnung beiliegendes Blatt 7333.9 gehört mit Sicherheit zu Brief 7340. Erstens ist dort ein bibliographisches 'Nebenblatt' erwähnt, zweitens enthält dieses Blatt bibliographische Angaben, die zeitlich nicht zum vorliegenden Brief passen können.

11 Dieses folgende Blatt trägt irrtümlich die Signatur 7334, muß aber zum Brief mit Bibl.Nr. 7333 gehören. Die darauf verzeichneten Fußnoten finden hier einen eindeutigen Bezug. Die Fußnotenzeichen im Text und auf diesem Blatt sind im Original arbische Ziffern. Sie wurden hier durch römische Minuskeln ersetzt, um eine Verwechslung mit den regulären Fußnoten zu vermeiden.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 7333)