Hugo Schuchardt an Adolf Mussafia (54-SM17)
von Hugo Schuchardt
04. 10. 1887
Deutsch
Schlagwörter: Österreichische Akademie der Wissenschaften (Wien) Mitgliedschaft Reisen Gesundheit Publikationsvorhaben Grundriss der romanischen Philologie Kongresse und Versammlungen Universität Montpellier Politik- und Zeitgeschichte Félibres Mistral, Frédéric Chabaneau, Camille Paris, Gaston Schuchardt, Hugo (1887) Schuchardt, Hugo (1923)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Adolf Mussafia (54-SM17). Graz, 04. 10. 1887. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2384, abgerufen am 23. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2384.
Graz, 4 Okt. 18871
Theuerster Freund,
Erst heute beantworte ich Deinen Brief vom Mai, weil ich ihn erst gestern in die Hände bekam. Ich danke Dir von ganzem Herzen für diese neuen Bemühungen zu meinen Gunsten, welche mir nicht minder werthvoll sind als es der errungene Erfolg selbst gewesen wäre. In solchen Dingen bin ich resignirt und muss es sein. Ich habe allerdings auch für die nächste Zukunft keine Akademieaussichten da ja 1888 Jagic wirkliches Mitglied werden muss.2 Bei der heurigen Wahl ist mir allerdings Manches unklar; ich weiss nicht ob der "mächtige Gegner" mehr gegen mich |2| oder mehr für den Andern eingenommen gewesen ist. Die Richtung meiner Studien kann ihm doch nicht antipathisch sein.
Es wäre sehr undankbar von mir, wenn ich dem Schicksal darob oder wegen noch schwerer wiegenden Dinge grollen wollte, nachdem mir meine arme Mutter, die im April tödtlich erkrankt war, erhalten geblieben ist. Während vierzehn Tagen trafen mich Depeschen und Briefe nicht an, da ich in Tarascon, wohin sie alle gerichtet waren, vergessen hatte den Auftrag zur Nachsendung zu hinterlassen. Erst in Nimes erfuhr ich von der Krankheit meiner Mama, zugleich aber auch von der beginnenden Besserung und |3| von ihrem ausdrücklichen Wunsch, ich möchte meine Reise nicht abbrechen. Du kannst Dir denken welche sorgenvolle Tage ich durchgemacht habe. Abgesehen davon und von meinen unausbleiblichen Gesundheitsstörungen hat mich die Reise höchlichst befriedigt, zwei Monate sind auf die Provence, das Languedok und die Gaskogne entfallen, drei auf das Baskenland. Meine Freunde und natürlich noch mehr meine Feinde - wenn ich deren habe - werden das sich als eine sehr angenehme Bummelei vorstellen; und doch habe ich selten so stark gearbeitet, wie unter den Basken. Nicht bloss hinter den Büchern schwitzt man, nein auch, und vielleicht weit mehr |4| indem man sich bemüht, eine solche absonderliche Sprache mit Ohr und Zunge sich anzueignen. Übrigens habe ich dort, an der spanischen Grenze, in Sare, einen ganz reizenden, billigen und doch komfortablen, völlig engländerfreien Aufenthalt gehabt. Eine Rundreise und einzelne Ausflüge haben mir einen Ueberblick über den grössten Theil des Baskenlandes gewährt; ich war auch in Roncesvalles.
Das Baskische ist für den Romanisten sehr interessant, nicht bloss in lexikalischer, als auch in phonetischer Beziehung. Ich darf jetzt wohl sagen dass das was nach dieser Seite hin bisher veröffentlicht worden ist, keineswegs befriedigt und erschöpft. Ich habe schon ein ganzes Buch über das Baskische im Kopf; aber wer weiss |5| wann es mir in die Feder kommen wird3. Ich bin bis jetzt noch den Abschnitt über das Kreolische für Gröber's Encyclopädie schuldig4.
Genug von meinem eigenen Sein und Thun; nun lass mich bald von Dir hören wie es Dir geht und wo Du den Herbst zugebracht hast. Auf der Rückreise von Frankfurt (ich habe dort und im Taunus einen Monat mit meiner Mama zugebracht) bin ich nicht über Wien gekommen; ich konnte nicht hoffen Dich dort zu treffen, da Du für gewöhnlich spät zurückkehrst.
Von dem Züricher Kongress habe ich erst nachträglich erfahren; ich hatte inzwischen für eines der nächsten Jahre eine internationale Romanistenzusammenkunft in der Provence geplant, und wie schon früher mit Andern, so mit Mistral und |6|Chabaneau darüber gesprochen, welche lebhaft auf meine Idee eingingen. Letzterer meinte die Sache liesse sich mit dem Jubiläum der Universität Montpellier im Jahre 1888 vereinigen. Gaston Paris hat mir das Projekt, soweit Südfrankreich in Frage kommt, wieder ausgeredet; die Beziehungen zwischen Franzosen und Deutschen sind allerdings wieder so unerfreuliche geworden dass an ein fröhliches Zusammenkommen von Gelehrten beider Nationen auf französischem Boden nicht gedacht werden kann. Die anti-italienische Stimmung der Félibréens die fast alle sehr legitimistisch und papistisch sind, hätte kein zu starkes Bedenken hervorgerufen. Meinst Du nicht dass es doch schön wäre wenn einmal auf breiter Basis an irgend einem schönen und bedeutenden Orte der Romania "eine Zusammenkunft aller die sich für romanische Sprachen und
1 Dieser Brief ist leider nur als Fragment erhalten.
2 Vatroslav Jagic (1838 - 1923), Slawist, wurde tatsächlich 1888 zum wirklichen Mitglied ernannt.
3 Die erste einer beachtlichen Zahl von Publikationen zum Thema erschien noch im selben Jahr: Schuchardt, Hugo. 1887. 'Romano-baskisches I. P-'. In Zeitschrift für romanische Philologie 11: 474-512 (Brevier-/Archivnr. 200); als heute noch richtungweisend gilt die selbständige Veröffentlichung Schuchardt, Hugo. 1923. Primitiae linguae Vasconum. Halle : Niemeyer (Brevier-/Archivnr. 753).
4 Schuchardt sollte nichts zu Gustav Gröbers Grundriß der romanischen Philologie, Straßburg, 1888 beitragen.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca Umanistica dell'Università degli studi di Firenze. (Sig. SM17)