Adolf Mussafia an Hugo Schuchardt (19-07642)
von Adolf Mussafia
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
1875
Deutsch
Schlagwörter: Universitätsangelegenheiten Universität Graz Berufungen Romanische Philologie Institutionalisierung Englische Philologie Italienisch Mall, Eduard Conze, Alexander Lehner, Johannes (1980)
Zitiervorschlag: Adolf Mussafia an Hugo Schuchardt (19-07642). Unbekannt, 1875. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2341, abgerufen am 17. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2341.
Bester Freund!1
In meiner Abgeschiedenheit von allen Berufgeschäften kann ich Ihnen über die Grazer Angelegenheit2 nicht viel sagen. Vor mehren Monaten über meine Ansicht befragt, beantwortete ich Folgendes: Die ziemlich zahlreiche Colonie italienischer Studenten in Gratz verdient Berücksichtigung; auch fordert der Umstand, dass zwei Prüfungscommissionen in Gratz bestehen, vor welchen alljährlich mehre Italiener die Approbation, ital. Spr. u. Lit. an Gymn. u. Rsch. in italien. Provinzen zu lehren erlangen, dass möglicherweise wie die Examinanden auch der Examinator ein Italiener sei; allerdings nicht Einer aus der alten Schule, sondern Jemand, welcher mit der Wissenschaft Schritt hält. DeMattio in Innsbruck bittet um die Stelle; ich glaube, dass wenn auch seine Leistungen bisher in mehr oder weniger geschickten Compilationen bestehen, man ihm doch diese nicht nach dem für deutsche Universitäten allgemein giltigen Maassstabe sondern für die speciellen Gr. Bedürfnisse zu berechnende Stelle gewähren darf. Diess schliesst aber durchaus nicht die Pflicht u. das Recht der Gr. Univ aus, auch für einen Romanisten zu sorgen; nur wäre, um nicht an einer kleineren Univ. 2 Rom. zu haben (was auch beim Fin.Min. Bedenken erregen würde) besonders das Augenmerk auf einen Gelehrten zu richten, welcher die nicht gerade sehr organische aber doch bestehende und bequeme Verbindung des Rom. mit dem Engl. böte; und da nannte ich Mall in Würzburg.3 Seitdem erkrankte ich und |2| ist mir leider Alles was Studien, Univ., Minist. betrifft so fremd geworden, als ob sie nie bestanden hätten. Nun kommt Ihre Mittheilung, über die, da ich die näheren Absichten des Gr. Coll. nicht kenne, mich schwer aussprechen kann. Als wahrer Freund zum Freunde sage ich Ihnen folgendes: Niemand schätzt und bewundert Ihre lingu. u. lithist. Kenntn. auf dem Gebiete des Ital. mehr als ich; wenn aber die Gr. bei Ihrer Wahl beabsichtigen, Ihnen die Last der Prüfungen aufzubürden, nehmen Sie nicht an. In einer ital. Univ. werden Sie mit grossem Erfolge wissensch. Collegia aus dem Ital. lesen; würde man Sie in eine Commission ernennen, welche künftige Mittelschullehrer zu prüfen hat u. auch für die pract. Bedürfn. ital. Schulen zu sorgen hat, so würden Sie wahrscheinlich nicht annehmen. Ich stelle mir die Sache so vor. Sie, ich, wir alle Roman. prüfen LAC., welche, deutscher National. an deutschen Schulen Franz. lehren, mit vollem Rechte; wenn man mir sagte; prüfe einen Franzosen, um zu ergründen ob er in Tours oder Rouen oder Paris als Lehrer des Franz. an Mittelschulen auftreten darf, würde ich ablehnen. Glauben Sie ja nicht an Chauvinismus von meiner Seite; für die tüchtige Bildung des Cand. würde mir persönlich eine weit grössere Gewähr geben ein Approbationszeugniss von Ihnen als von DeMattio; ich spreche nur von Ihrem Standpunkte gegenüber den Cand. aus, welche oft von Eigendünkel erfüllt und den wahren Werth wissenschaftlicher Bildung nicht zu schätzen vermögend, dem Nichtitaliener das Recht sie in ihrer Muttersprache zu prüfen bestreiten könnten. Bisher sind die ital. Collegia fast ausschl. von Ital. besucht u. daher in ital. Sprache gehalten worden; werden Sie als Deutscher in einer deutschen Univ. sich dazu bequemen wollen?4|3| Kurz: ich würde den Grazer sagen; wollt ihr zwei Vögel mit einem Schusse tödten, und denket ihr bei mir zuerst an den guten Kenner des Ital., damit ich auch für eure pract. Bedürfn. sorge, da bin ich nicht euer Mann; beruft ihr aber lediglich den Schuch., den Romanisten, so bin ich bereit, euere Einladg anzunehmen, wenn u.s.w.
Die Bedingungen dürften leicht zu vereinbaren sein; denn unser Ministerium knausert nicht.5 In Öst. muss man 30 Dienstj. haben, um das Anrecht zur vollen Pension zu haben; bei physischer Unmöglichkeit treten in der Regel billige Rücksichten ein; Sie müssen jedenfalls die Dienstjahre, die Sie haben, sich anrechnen lassen; man pflegt Berufenen gegenüber etwas freigebiger zu sein; Conze6 z. B. erhielt gleich 10 Jahre zugezählt; Sie verlangen Dasgleiche, und begnügen sich dann allenfalls mit Etwas weniger. Die Wittwenpension ist sehr schlecht, nur 500 fl. allerdings heisst es, daß es bald besser werden dürfte.
Diess was ich Ihnen sagen kann; die Angelegenheit irgend wie zu fördern ist mir unmöglich, da mich Niemand befragt hat und ich Niemanden sehe, dem ich gelegentlich etwas sagen könnte. An meiner Bereitwilligkeit, Ihnen zu nützen, können Sie wol ohne meine Versicherung glauben.
Leben Sie recht wol
Ihr aufrichtiger
A. Mussafia
1 Der vorliegende Brief ist nicht datiert, stammt aber vermutlich aus dem Jahr 1875.
2 Nach der Pensionierung Anton Lubins (o. Prof der italienischen Sprache und Literatur) suchte man in Graz einen Vertreter der romanischen Philologie, weshalb DeMattio, der sich ausschließlich mit dem Italienischen befaßte, nicht in Frage kam. - Die Berufungskommission machte sich für Hugo Schuchardt stark: "Ruft man sich die Namen der noch in jüngeren Jahren stehenden Romanisten vor das Gedächtnis, so wird jedem zuerst Hugo SCHUCHARDT einfallen, als der genialste, vielseitigste und fruchtbarste unter den jüngeren Vertretern romanischer Philologie. [...] Zufolge der geographischen Lage unserer Hochschule wird unter allen romanischen Sprachen hier immer das Italienische im Vordergrund stehen, und gerade das Italienische ist es, dem SCHUCHARDT seine Arbeit vornehmlich zugewandt hat [...] Überblickt man die lebenden Sprachen, mit welchen SCHUCHARDT sich beschäftigt hat: Französisch, Italienisch mit seinen Dialekten, Churwälisch, die ladinischen Mundarten von Tirol und Friaul, das Rumänische, das Albanische, so findet man unter ihnen die im österreichischen Kaiserstaate gesprochenen romanischen Dialekte sämtlich. [...] Die vollkommene Beherrschung des Italienischen befähigt ihn als Prüfungskommissar für italienische Unterrichtssprache zu fungieren [...], eventuell auch Vorlesungen in italienischer Sprache zu halten." (Zitiert nach: Lehner, Jürgen: Die Geschichte der Romanistik an der Universität Graz, Masch. Hausarbeit, Graz, 1980, 32 f.).
3 Eduard Mall (1843 - 1892), Anglist und Romanist.
4 Schuchardt hat nie auf Italienisch gelesen.
5 Die Verhandlungen zogen sich dann doch etwas hin, sodaß Schuchardt erst mit allerhöchster Entschließung vom 8. April 1876 zum ordentlichen Professor für romanische Philologie ernannt wurde.
6 Alexander Conze (1831 - 1914), Historiker.