Adolf Mussafia an Hugo Schuchardt (8-07638)

von Adolf Mussafia

an Hugo Schuchardt

Wien

27. 02. 1872

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätsangelegenheiten Universität Strassburg Universität Halle Berufungen Biographischeslanguage Vulgärlateinlanguage Italienischlanguage Französischlanguage Rumänischlanguage Albanisch Böhmer, Eduard Ascoli, Graziadio Isaia Schuchardt, Hugo (1870) Schuchardt, Hugo (1870) Schuchardt, Hugo (1871) Schuchardt, Hugo (1871)

Zitiervorschlag: Adolf Mussafia an Hugo Schuchardt (8-07638). Wien, 27. 02. 1872. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2320, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2320.


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Werthester Freund!

Wenn ich mich unberufen in Ihre Angelegenheiten dränge und mir erlaube, Ihnen einen Rathschlag zu ertheilen, so schreiben Sie es nur meiner Freundschaft zu, einer Freundschaft, die um so lauterer und inniger ist, als sie aus der Bewunderung für Ihre Leistungen entspringt.

Ich höre aus sicherster Quelle, dass Böhmer nach Strassburg1 geht und dass folglich die romanische Lehrkanzel in Halle erledigt ist. Jetzt scheint mir der Augenblick gekommen, in welchem der Wunsch aller Romanisten, die für ihre Wissenschaft warm fühlen, befriedigt werden könnte, Sie nämlich, den wir mit Stolz als den unseren nennen, auch durch Ihre äußere Stellung für die romanische Philologie bleibend gewonnen zu wissen. Sie kennen mich wol und wissen, daß ich jeder Schmeichelei abhold bin; Sie glauben mir gewiss, wenn ich Ihnen sage, dass es unter den Fachgenossen wenige gibt, denen ich für mannigfache gründliche Belehrung in so hohem Maasse zu innigem Danke verpflichtet fühle, wie eben Ihnen. Sie haben uns eine neue Bahn erschlossen; das was unser verehrter Meister Diez, von der Fülle des Stoffes gedrängt, in Bezug auf das Vulgärlatein nur andeuten konnte, wurde von Ihnen in trefflicher Art ausgeführt. Sie haben vieles vor uns anderen Romanisten voraus; denn einmal sind Sie durch die strengste classische Schule gegangen, andererseits sind sie mit einem so fein ausgebildeten Sinne für Erkenntniss glottologischer Erscheinungen begabt, dass ich Ihnen in dieser Richtung auf unserem Gebiete Niemanden, ausser etwa unseren Ascoli, zur Seite zu stellen wüsste. Die glänzenden Proben, die Sie bisher lieferten, lassen uns mit grosser Spannung den weiteren Ergebnissen Ihrer Forschungen über die italienischen und französischen Mundarten, so wie über die mehr abseits liegenden Idiome – das Rumänische und das Albanesische – entgegensehen. Und mit Freude ersehe ich aus Ihren Recensionen mit welchem Eifer Sie sich auch auf die anderen Zweige der romanischen Philologie verlegen, wie sehr Sie in der mittelalterli|2|chen Literatur, in den Fragen der Textkritik, der Sagengeschichte u.s.w. zu hause sind.2

Warum ich Ihnen Diess Alles sage? Weil es mir scheinen will, als ob Sie, vielleicht durch zu grossen Hang zur Selbständigkeit, nicht genug Ihr Augenmerk auf Erlangung einer Professur richten; denn ich könnte mir sonst schwer erklären, wie es denn komme, dass bei dem Mangel an tüchtigen Romanisten eine so bewährte Kraft wie Sie noch immer nicht für eine Lehrkanzel gewonnen wurde. Nun möchte ich Sie, mein lieber Freund, daran erinnern dass nicht bloss 'Adel' sondern auch 'Wissenschaft verpflichtet' und dass es daher Ihre Gewissenspflicht ist, für eine erweiterte akademische Thätigkeit zu sorgen. So lange Sie nicht äusserlich gebunden sind, fürchte ich immer, dass Sie unserer Wissenschaft einmal untreu werden, dass die classische Philologie Sie wieder an sich ziehe. Folgen Sie also meinem Rathe, und wenn die Herrn in Halle nicht schon an Sie gedacht haben, so überwinden Sie die natürliche Scheu und setzen Sie sich in Bewerbung.

Dass ich Ihnen dabei irgend wie nützlich sein kann, glaube ich bei meinem geringen Ansehen kaum; sollte Diess aber doch irgend wie möglich sein, so lassen Sie es mir wissen. Ich werde es mit Freude thun. Leben Sie recht wol und theilen Sie mir recht bald Ihre Ansichten über den Gegenstand mit

Ihr aufrichtiger Freund
A Mussafia

Wien, 27 Feb. 1872


1 Mussafia selbst hatte die Berufung an die Universität Straßburg abgelehnt; diese Professur erhielt dann Eduard Boehmer (1827 - 1906), dem in Halle Hugo Schuchardt nachfolgen sollte.

2 Vgl. dazu beispielsweise: Schuchardt, Hugo. 1870. '[Rez. von:] A. de Cihac, Dictionnaire d´étymologie daco-romane'. In Literarisches Zentralblatt für Deutschland 21: 1336-1337. (Brevier-/Archivnr. 7); ders. 1870. '[Rez. von:] M. Landau, Die Quellen des Decamerone'. In Literarisches Zentralblatt für Deutschland 21: 1369-1370. (Brevier-/Archivnr. 8); ders. 1871. '[Rez. von:] C. Bursian, Erophile. Vulgärlateinische Tragödie von Georgios Chorlatzes aus Kreta. Ein Beitrag zur Geschichte der neugriechischen und der italiänischen Litteratur'. In Literarisches Zentralblatt für Deutschland 22: 159-160. (Brevier-/Archivnr. 15); ders. 1871. '[Rez. von:] V. Bühler, Davos in seinem Walserdialekt. Ein Beitrag zur Kenntnis dieses Hochthals und zum schweizerischen Idiotikon, 2. Halbb.'. In Literarisches Zentralblatt für Deutschland 22: 207-208. (Brevier-/Archivnr. 16).

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