Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (439-11193)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

21. 08. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Meillet, Antoine Vossler, Karl Schürr, Friedrich Urtel, Hermann Riegler, Theodor München Graz Schuchardt, Hugo (1868)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (439-11193). Pörtschach, 21. 08. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2295, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2295.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach a/S, 21. VIII. 1926.

Lieber, verehrter Freund,

Vielen Dank für Ihren unter so schwierigen körperlichen Verhältnissen geschriebenen Brief. Ich sehe vollkommen ein, wie widrig das alles ist, warum Sie leiden, und wie sonderbar einen berühren muß, wenn die Zeitgenossen das Altern wenigstens in geistiger Beziehung nicht einsehen wollen. To make the best of it ist ein zwar banaler, doch irgendwie richtiger englischer Trost.

Die Bemerkung über unser aller Dogmatismus verstehe ich nicht ganz. Ist es nicht so, daß wir jeder eine indiskutable Axiomatik haben, die zwar genetisch (historisch) verstanden, aber nicht von anderen, die unter anderen Sternen aufwuchsen, ohneweiters mitgemacht werden kann?

Was Meillet betrifft, so sehe ich bei ihm Ansätze zur Päpstlichkeit, die mir bei jedem Menschen, so hoch er stehen mag, odios sind. Das Orakeln ist mir widerwärtig, auch beim alten Goethe. Über solche Dinge haben wir hier jetzt viel diskutiert. Die Haltung Vosslers (ich meine in der Öffentlichkeit) gibt ja mehrfach dazu Anlaß. Er glaubt, werten zu können und zu dürfen, oft bevor er noch richtig verstanden hat. Er ist Paganist durch u. durch, im Religiösen wie im Erotischen – ich vertrete hier (lachen Sie nicht) das Christentum mit seiner Forderung der Demut, seiner 'symbolistischen' Haltung, seinem Streben nach Übersinnlichem. Wir haben hier in aller Güte und Freundschaft manche |2|Schlacht geschlagen. Ich habe natürlich einen schweren Stand einem Mann gegenüber, der trotz aller neuerlichen Ehrungen (Pour le mérite, Rektorat [in München!]) innerlich doch auf die Stimme der Jugend (habe ich die noch?) hört: ich muß das suaviter in modo mit fortiter in re verbinden.

Haben Sie gehört, daß Schürr die Berufung nach Graz angenommen hat? Sie werden ja nun einen, wenn auch nicht sehr interessanten, aber doch einen ehrlichen, anständigen, bescheidenen jüngeren Kollegen bekommen. Hoffentlich wird er endlich von dem Pessimismus geheilt, der ihn ohne Grund befallen hat.

Urtel soll eine Ader im Gehirn geplatzt sein, also wohl ein Schlaganfall? Ich höre das über Umwege, Sie werden vielleicht besser unterrichtet sein. Sein Maupassantbuch wird allerdings ziemlich mäßig beurteilt. Ob die 2. Heirat mit einem so jungen Wesen nicht von Übel war?

Ich bin sehr herunter mit den Nerven, überarbeitet und von Zweifeln an mir geplagt hier eingetroffen (das Ordinariat stellt an den noch nicht verantwortungslosen Jüngeren große Anforderungen), durch Nichtstun und Plaudern erhole ich mich im Kreise schöner Frauen, von denen unsere Karte allerdings nichts ahnen läßt.

An Theodor Rieglers Gedicht stößt mich etwas ab, daß solche kniende Nächte und sitzende Zeiten in der zeitgenössischen lyrischen Menagerie allzu häufig sind. Die letzte Strophe ist jedenfalls die bestgelungene. In jeden Fall: ein journalistisches Talent eher als ein lyrisches.

Ihren slipp-slapp-Artikel1 kenne ich.

Herzliche Grüße und Wünsche für Ihre Gesundheit!

Ihr ergebenster
Spitzer


1 H.S., "Slipe, slape, snorio, basilorio (zu Zeitschr. XIV, 397-399 [von Ascoli])", in: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen und Lateinischen 17 (1868): 396-400.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11193)